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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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kalten Hass für sie, ich hätte sie auf der Stelle umbringen können. Dann befielen mich Müdigkeit und Bitterkeit. Wie konnte sie von mir reden, als wäre ich gar nicht da? Und wie konnte sie von meinem kleinen Bruder, den ich so vergötterte, als Last sprechen? Das war Heuchelei – denn sie vergötterte ihn und sagte es auch. Wie konnte sie mich so schlechtmachen und erniedrigen und verraten? Noch dazu vor irgendeinem hergelaufenen Gast? Ich wusste, dass das meinem Vater nicht gefiel: Ich konnte spüren, wie seine Gefühle auf mich übergingen. Er litt unter der Dickfelligkeit seiner Frau, die nicht zu merken schien, was sie tat.
    Aber was tat sie denn? Nicht mehr, als andere Frauen tun. Als Frauen so häufig tun. Überall kann man sie hören, im Zug, im Bus, auf der Straße, in den Geschäften: Sie zerren ihre Kinder an der Hand hinter sich her oder schieben sie lieblos in ihren Karren; sie klagen und nörgeln, und die Kinder, die scheinbar keine Ohren haben, bekommen zu hören, dass sie ihre Mütter kaputt machen, dass die sie nicht wollen und – denn was könnten sie sonst meinen, wenn sie so reden? – dass es ein Fehler war, sie überhaupt in die Welt zu setzen.
    Ich glaube, kein Kind, und sei es noch so unsensibel, bleibt von solch einem Angriff auf seine Existenz unberührt.
    Mir jedoch haben von Geburt an ein paar Hautschichten gefehlt. Oder die kräftigen, tüchtigen Hände haben sie mir heruntergeschrubbt.
    Und mein Vater, der an der mangelnden Sensibilität seiner Frau litt und sich stumm immer weiter in sich zurückzog? Hatte ihm die zupackende Caroline May eine Haut zu viel heruntergeschrubbt? Und was ist mit all den anderen melancholischen, langgesichtigen Halbpoeten in seiner Familie? Oder ist eine Erbanlage schuld, dass man mit einer zu dünnen Haut geboren wird?
    Ich weiß nur, dass ich mich klar und deutlich und unmittelbar, ohne jede Einbildung, daran erinnere, wie mein Vater dasaß und die Leute und das Treiben um sich herum mit einem langsamen, genüsslichen, sardonischen Lächeln beobachtete. (Wobei dieses Lächeln der Haltung entspricht, mit der ein Schriftsteller die Welt betrachtet.) Und wenn die böse, alte Marta und die große, emsige Frau, die meine Mutter war, mir so zusetzten, dass ich mich irgendwo verkriechen musste oder sie so hasste, dass ich sie am liebsten umgebracht hätte, dann suchte ich bei meinem Vater Zuflucht.
    Und trotzdem.
    In jenem Haus in Teheran – nicht in dem vollgestopften Kinderzimmer, sondern unten im Wohnzimmer, das zwar genauso mit Möbeln zugestellt war, aber wenigstens nicht mit solchen in diesem tödlichen Weiß – fand allabendlich ein Ritual statt. Wir, die kleinen Kinder, wurden vor dem Zubettgehen vom Kindermädchen hinuntergeführt, um mit den Eltern zu spielen. Wir machten Kissenschlachten, wurden gejagt, gefangen, in die Luft geworfen – und gekitzelt. Ähnliches findet heute in vielen Mittelstandsfamilien statt, denn solche Spiele gelten als gesund und charakterfördernd. Ich sehe noch das gerötete, aufgeregte Gesicht meiner Mutter, wenn sie mit ihrem Kissen auf meinen Kopf oder den meines Bruders eindrosch. Ich höre die aufgeregten Schreie, die ich, mein Bruder und meine Mutter ausstießen, während die Federn durch die Luft flogen und ich Kopfweh bekam. Und dann der Moment, wo Papa sich seine kleine Tochter schnappt und ihr Gesicht in seinen Schoß oder Schritt gedrückt wird, in den ungewaschenen Geruch – er hat nie viel vom Waschen gehalten, und, das darf man nicht vergessen, es war vor der Zeit der Schnellreinigungen, und Kleider rochen grundsätzlich, rochen grauenhaft. Mittlerweile schmerzt mein Kopf unerträglich, der pochende Schmerz der Übererregung. Seine großen Hände bearbeiten meine Rippen. Ich schreie hilflos, hysterisch, verzweifelt. Dann kommen die Tränen. Aber wir mussten lernen, zu allem gute Miene zu machen. Dieses »Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Machen« war aus dem Leben des Mittelstands nicht wegzudenken. »Spaß zu vertragen« und bei Spielen verlieren zu können, sich kitzeln zu lassen, bis man weinte, waren notwendige Lernschritte.
    Das muss nicht zwangsläufig so sein, denn man kann auch beobachten, wie kleine Kinder sanft gejagt und gekitzelt werden, wirklich zum Spiel und nicht, um sie damit versteckt zu drangsalieren. Aber ich wurde bis zum siebten oder achten Lebensjahr in Albträumen von diesen Riesenhänden, die mir die Rippen malträtierten, verfolgt. Diese Träume habe ich noch heute so deutlich

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