Unter der Haut (German Edition)
jetzt wieder zu lesen und sich in Erinnerung zu rufen, welche Kraft es einmal hatte.) Sie lagen mit ihrer Einschätzung nicht einmal vier Jahrzehnte daneben.
Ich besprach mein Weggehen nicht nur mit allen Leuten im Haus und mit den Genossen, sondern auch mit den beiden Kleinen. Sie waren diejenigen, die mich wirklich verstanden. Ganz so, als wäre ich genauso alt wie sie oder sie genauso alt wie ich. Mit John hatte mich schon immer so etwas wie Freundschaft verbunden. Wir waren selbst dann noch »gut miteinander ausgekommen«, wenn mich seine schier unerschöpfliche Energie in ein heulendes Häufchen Elend verwandelt hatte. Mit Jean und ihrem sanften Gemüt verband mich eine Zärtlichkeit, die durch meine uneingestandenen Schuldgefühle deutlich Schaden genommen hatte. Ich erklärte ihnen, dass sie später einmal verstehen würden, warum ich weggegangen sei. Ich würde aufbrechen, um diese hässliche Welt zu verändern, sodass sie später einmal in einer wunderschönen und vollkommenen Welt leben könnten, in der es weder Rassenhass oder Ungerechtigkeit noch sonst irgendwelche schrecklichen Dinge gebe. (Ganz im Stil der Atlantikcharta.) Aber stärker noch, und viel wichtiger, sei, dass ich, fast wie einen genetischen Schaden, so etwas wie Untergang oder Verhängnis in mir trüge, das, wenn ich bliebe, sie genauso befallen werde wie mich selbst. Indem ich wegginge, würde ich einen schon ewig andauernden Kreislauf durchbrechen. Und dafür würden sie mir eines Tages dankbar sein.
Ich war absolut aufrichtig. Allerdings spricht für Aufrichtigkeit allein nicht viel.
Dieses Gefühl von Verhängnis, von Schicksal ist eines der Themen – vielleicht sogar das zentrale Thema – von
Martha Quest.
Dieses Gefühl war es auch, das mich schon seit frühester Kindheit dazu trieb, immer und immer wieder zu sagen: »Ich
will
nicht, nein, ich will einfach nicht.« Und trotzdem hatte mich eine Welle der Oberflächlichkeit oder der öffentlichen Erwartung mit sich fortgetragen, seit ich die Farm (und meine Schreibmaschine) verlassen und – wie ich mir damals eingebildet hatte – mein Schicksal in die eigene Hand genommen hatte – nur damit aus mir zunächst eines der heiratsfähigen Mädchen in der Stadt, dann eine Ehefrau und dann eine Mutter wurde.
Rückblickend würde ich sagen, dass in dieser Zeit vielleicht ein Viertel meiner Persönlichkeit in Anspruch genommen worden war und mein bester Teil noch auf Eis lag. Jedenfalls hatte ich dieses Gefühl. Aber was für komplexe Prozesse verstecken sich doch hinter diesem Ausdruck, diesem
rückblickend.
»Ach, aber so hab ich damals die Dinge gesehen«, sagt vielleicht eine ältere Frau zu einer anderen. »Ich befand mich damals im Rohzustand. Ich war unausgegoren … ungeformt … unreif … ich war einfach noch nicht geboren.« Und sie würde sofort verstanden werden. Nun, auch ich war unausgegoren.
Jahrzehnte später lernte ich eine ältere Frau kennen, die ihr erstes Kind zur gleichen Zeit bekommen hatte wie ich. Wir hatten manchmal die Vormittage miteinander verbracht. »Du warst einfach nicht mütterlich«, sagte sie 1982 zu mir. Ich führte mir rückblickend meine ganze oberflächliche Tüchtigkeit vor Augen und konnte ihr nur zustimmen. Aber was ist in der Zeit zwischen 1942 und 1946 , dem Jahr, in dem ich mein drittes Kind bekam, passiert, dass die verschütteten oder verdrängten drei Viertel meiner Persönlichkeit wieder zum Leben erweckt wurden? Ich habe keine Ahnung.
Eine weitere Erinnerung: Auf einer Decke, die auf dem Rasen unter dem Surenbaum ausgebreitet ist, sitzen die Kinder mit mir. Ich bin berauscht von meiner Aufrichtigkeit und meiner Zwiespältigkeit, erfüllt von meinen Idealen und von Poesie.
Die zwei kleinen Würmchen sitzen da und schauen mich interessiert an, während ich die wohlklingenden Verse Hölderlins rezitiere.
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist …
Oder Gerard Manley Hopkins:
The World is charged with the grandeur of God
Und:
Glory be to God for dappled things …
»Aber ich habe gedacht, Sie wären Atheistin«, höre ich jemanden protestieren. »Na und? Die Poesie hat doch damit nichts zu tun.«
Die beiden Kleinen sind hingerissen. Jean schwenkt versuchsweise die Arme im Takt hin und her. John schlägt mit einem Bauklotz heftig auf eine alte
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