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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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kleine Jean ist ein nachdenkliches und sensibles Wesen, und obwohl sie gerne wie ihr großer Bruder wäre, ist sie gar nicht glücklich, wenn wir so schnell unter den Bäumen dahinfahren. Ich weiß, dass sie Angst hat, und sehe, dass ihre Mundwinkel zittern, aber ich sage ihr, dass sie sich nicht zu fürchten braucht.
    Aus irgendeinem Grund fahre ich zum Haus von Nathan Zelter, wahrscheinlich, um ein Buch oder Flugblätter abzuholen. Ich komme dort an, stütze mich mit dem Fuß an der Veranda ab und lächele ihn vom Fahrrad aus an. Er mustert mich mit der ironischen Wertschätzung eines Mannes, der sich zu einer unerreichbaren Frau hingezogen fühlt. Er macht ein paar gewollt sachliche Bemerkungen, aber sie hören sich eher sarkastisch an. Ich bin wütend. Wie kann er es wagen?, denke ich. Jahre später, in den Sechzigern, beobachtete ich auf einer Party eine junge Frau, die sonst dermaßen kurze Miniröcke trug, dass immer ihr hübscher, eng anliegender, weißer Slip zu sehen war. Doch an jenem Abend saß sie in einem langen »Ethno«-Kleid auf dem Fußboden. Das Kleid rutschte nach oben und entblößte vielleicht ein paar Zentimeter Knöchel, die ein in ihrer Nähe sitzender Mann offen bewunderte. Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu und zog sich den Rock mit betonter Geste über die Füße.
    Junge Frauen, die so angezogen und geschminkt sind, als hätten sie nichts anderes als Sex im Kopf – ob ihnen das bewusst ist oder nicht –, murmeln unter Umständen: »Schmierige Dreckskerle«, wenn Männer entsprechend auf sie reagieren. Nach dem gleichen Muster waren mein leuchtender, neuer Lippenstift, mein erneut schlanker Körper und meine glatten Beine ganz allein meine Angelegenheit, mein Besitz, und sie gingen diesen unverschämten Kerl nicht das Geringste an, ob er nun »Genosse« war oder nicht.
    Und so fuhr ich damals durch die Alleen zurück, die Kleine klammerte sich dabei an der Querstange ihres kleinen Sitzes fest, streckte die kleinen Beinchen nach vorne und legte unter der Krempe ihres Sonnenhütchens entschlossen die Stirn in Falten.
    Jetzt folgt ein Rätsel. Ein gut Teil meiner Kindheit hatte ich damit zugebracht, irgendeinen Säugling oder ein kleines Kind zu vergöttern. Ich hatte darauf gewartet, dass ich für John die gleichen Gefühle empfinden würde, doch der musste sich aus einem unerfindlichen Grund sämtlichen Umarmungen entwinden, bei allen Leuten, nicht nur bei mir. Jean hätte sich nur allzu gern immerzu auf den Schoß nehmen lassen oder in liebevolle Arme geschmiegt. Doch das ließ ich nicht mehr zu. Das soll nicht heißen, dass sie nicht gehätschelt und geliebt wurde – nur von mir zu wenig. (»Mami, komm mit mir kuscheln.«) Der Teil von mir, der Babys und kleine Kinder liebte, sollte erst später wieder zum Leben erwachen. Ich schützte mich damals selbst, weil ich wusste, dass ich weggehen würde. Und doch wusste ich es gleichzeitig nicht, ich konnte nicht zugeben, dass ich das Unverzeihliche tun und zwei kleine Kinder verlassen würde.
    Ein paar Wochen lang befand ich mich in der absurden Lage, dass alle über meinen Weggang redeten, ich jedoch nicht wegging. Frank war verzweifelt und meinte, ich solle lang genug verreisen, um wieder zu mir selbst zu finden, und dann zurückkehren. Mary reagierte hart und unversöhnlich. Sie bewunderte mich und hatte geglaubt, dass Frank und ich eine perfekte Ehe führten. Dora, dieser Inbegriff weiblicher Tugenden, hielt zu mir. Nicht öffentlich, denn da passierte es eher, dass sie mit einem Seufzer sagte: »Ach, es ist so furchtbar, furchtbar schade.« Aber wenn wir allein waren, sagte sie: »Recht so. Ich wünschte, ich hätte auch den Mut.« Dora lebte jetzt ganz bei uns. Sie war ebenfalls eine Frau, die sich ein kleines Mädchen gewünscht, aber zwei Jungen bekommen hatte und ihre Liebe jetzt Jean schenken konnte. Sie und die Nachbarin, die auf Jean aufgepasst hatte, wetteiferten diskret um Jeans Zuneigung. Unterdessen war ich jeden Abend und einen Teil des Tages mit den Genossen zusammen. Sie hörten sich an, wie ich stundenlang über mein Weggehen lamentierte, und sagten schließlich, dass ich entweder gehen oder dableiben solle, denn die Sache langweile sie allmählich. Wenigstens musste ich ihnen nicht erklären, dass es mein Lebensstil war, von dem ich mich unbedingt lösen musste: Ihrer Meinung nach gehörte die »Zivilisation der Weißen« sowieso in den »Mülleimer der Geschichte«. (Wie gut es tut, dieses abgelegte Vokabular

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