Unter der Haut (German Edition)
versank. Es kam mir vor, als hätte ich irgendwann einen Schritt aus dem Reich der Vernunft hinaus gemacht und wäre in einem anderen Reich gelandet, in dem alles unecht war und niemand die Wahrheit sagte.
In Wirklichkeit war unser Liebesleben, wie man so sagt, befriedigend. Es ist eine Frage der Erwartung – oder eigentlich der Information. Ich bin überzeugt, dass das Liebesleben von neunundneunzig Prozent der Weltbevölkerung aus einem handfesten Raus und Rein besteht, das mit dem Wort »bumsen« trefflich beschrieben ist, und dass die meisten Menschen damit auch zufrieden sind. Zum einen braucht man für komplizierteren Sex eine gewisse Vertrautheit miteinander, und die haben nicht alle. Zum anderen weiß man gar nicht, was einem entgeht, wenn man es nicht kennt. Unsere Eheratgeber beschränkten sich auf Gefühlsduseleien, auch wenn sie viel besser waren als Marie Stopes’
Married Love.
Beispielsweise war es erlaubt, den Körper seines Partners zu küssen, vorausgesetzt, man tat das mit Ehrfurcht. Wenn dort stand, dass alles erlaubt sei, sofern es nur aus Liebe geschehe, grübelte man vielleicht über dieses »alles«, doch selbst die lebhafteste sexuelle Fantasie profitiert noch von der Information. Oraler Sex? Was ist das? Sadomasochismus? Was kann damit bloß gemeint sein? Den Sozialhistorikern zuliebe sollte ich festhalten, dass damals um die Klitoris längst nicht so viel Aufhebens gemacht wurde wie zur Zeit der Niederschrift dieses Buches. (Aber das wird sich wohl auch wieder ändern.) Damit will ich nicht sagen, dass die Ratgeber sie außer Acht ließen. Als ich Balzacs Diktum las: »Ein Mann hat zu früh geheiratet, wenn er nicht in der Lage ist, seine Frau in zwei aufeinanderfolgenden Nächten auf zwei unterschiedliche Arten zu befriedigen«, dachte ich angestrengt darüber nach, was ich kennengelernt hatte, aber als ich mich in meiner Jugend selbst befriedigte, waren da nur meine Vagina und ihr verblüffendes Potenzial. Die Klitoris war nur ein Teil des Gesamtensembles. Ein klitoraler Orgasmus war für sich allein ein zweitrangiges Vergnügen. Wenn man mir damals gesagt hätte, dass binnen weniger Jahrzehnte ideologisch aufgeladene Auseinandersetzungen um klitorale und vaginale Orgasmen geführt werden oder dass einige Leute behaupten würden, vaginale Orgasmen gebe es nicht, hätte ich sie ausgelacht.
Was subtileren und raffinierten Sex betrifft, so habe ich den erst viele Jahre später kennengelernt. Und ich bin sicher, dass viele Menschen ihn nie entdecken. Mag sein, dass manche Gefallen daran finden, mit jedem Hans und Franz zu schlafen, aber die ausgefalleneren Gefilde des Sex kann man nur mit jemandem erkunden, dem man sich durch eine seltene Übereinstimmung von Vorlieben, Wesensart und Fantasie verbunden fühlt. Dazu sei allerdings angemerkt, dass raffinierter Sex auch aus der Beschränkung geboren werden kann. Ich hatte einmal eine indische Freundin, die mir erzählte, dass sie und ihr Mann während der heißen Monate mit dem Rest ihres Clans samt Kindern auf dem Dach des Hauses schliefen. Sie sah mir an, dass ich gerne die naheliegende Frage gestellt hätte, und sagte lächelnd: »Es gibt Mittel und Wege.«
In der letzten Zeit, bevor ich Frank verließ, hasste ich ihn. Das kam daher, dass ich ihn schlecht behandelte. Ich kann verstehen, warum Folterer ihre Opfer hassen müssen. Dabei behaupte ich nicht, dass er sich gut benommen hätte, das hat er nämlich nicht, aber darum geht es nicht. Ich bediente mich auch gern logischer Argumente, wie zum Beispiel: »Wenn deine Stellung als Beamter durch meine politischen Aktivitäten gefährdet ist, dann verstehe ich nicht, warum du willst, dass ich bleibe.« Oder: »Wenn ich so verantwortungslos bin, dann wärst du doch ohne mich garantiert besser dran, oder?« Er wurde immer gefühlsduseliger und weinerlicher und ich immer kälter und sachlicher. Es schien, als stünden wir unter einem Bann, unter dem alles, was wir sagten oder taten, falsch und theatralisch wurde. Wir kannten einander nicht. Und wir kannten uns selbst nicht. Es war wichtig, dass ich wegging, bevor wir beide noch krank wurden. Frank war dann derjenige, der mich mitsamt meinen Habseligkeiten – Kleidern und Büchern – in irgendein möbliertes Zimmer in irgendeinem Haus an irgendeiner Allee fuhr. Meine Vermieterin war wiederum eine alleinstehende und einsame Frau, allerdings sprach diese von nichts anderem als von Einbrechern, Mord und Vergewaltigung. Die Schatten von
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