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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Geist der Zeit.
    Sex war einige Zeit lang meine geringste Sorge: Mein Sergeant war nach England zurückversetzt worden. Es hat in meinem Leben Phasen gegeben, in denen ich völlig sexbesessen war, aber ich glaube, dass das, zumindest für Frauen, eine Frage der Erwartung ist. Wenn ich mich bei einem Mann »zu Hause« fühlte und ein befriedigendes Liebesleben hatte, waren Moral und Monogamie kein Problem, wie das eben bei gestilltem Appetit so ist. Als ich sehr viel später einmal ohne Mann war und Sex aufgrund der Umstände nicht infrage kam, weil meine gesamte psychische Energie einem Kranken zufloss, schaltete ich ab. Das heißt, eigentlich wurde ich abgeschaltet. Der Sex trieb in meinen Träumen üppige Blüten, aber hätte ich zu den Menschen gehört, die von sich sagen können: »Ich träume nie«, dann hätte ich in aller Aufrichtigkeit gesagt, dass ich meine Sexualität verloren hatte.
    Ich war viel zu beschäftigt. Meine neuen Freunde waren Flüchtlinge aus Europa, und das hieß automatisch politische Flüchtlinge, sowie Männer von der Royal Air Force, die aus einer Schicht stammten, die in Großbritannien inzwischen ausgestorben zu sein scheint: Sie waren das Produkt von Abendschulen, Arbeitercolleges und Literaturgruppen aus der Provinz. Natürlich waren sie eine Minderheit, doch während des Krieges waren Tausende, vielleicht sogar Hunderttausende von Männern in Südrhodesien stationiert. Auch wenn nur ein paar von ihnen zu unseren Schulungen und Treffen kamen, so denke ich doch, dass sie größtenteils Sozialisten waren oder zumindest mit viel Gefühl über Stalin, »Uncle Joe«, redeten – vor allem, um die Offiziere zu ärgern. Kamen sie zu den Treffen, dann spielte ihr Rang keine Rolle mehr. Im ganzen Land, Bulawayo und Umtali eingeschlossen, hatte es bis dahin vielleicht dreißig ansässige Rhodesier gegeben, die unter der geistigen Enge im Land litten – und von denen waren einige erst kurz vor dem Krieg eingewandert.
    Was wir alle gemeinsam hatten, war dies: Wir waren Menschen, denen Gelegenheit gegeben wurde, ihre ungenutzten Fähigkeiten zu entwickeln. Die meisten Menschen leben vor sich hin und unterdrücken, ich würde mal sagen, neun Zehntel ihres Selbst oder lassen es schlummern. Für mich ist die große Tragödie dieser Welt, das Schlimmste überhaupt: Begabungen, die nicht gefördert werden. Nehmen Sie einmal eine beliebige Gruppe von jungen Menschen zwischen zwanzig und dreißig und verschaffen Sie ihnen Freiräume zum Denken – sie werden nur so sprühen vor Ideen. Wir waren alle zu einem gewissen Grad Rote, aber viel von dem, was ich damals lernte, hatte nur am Rand etwas mit Politik zu tun.
    Ein junger Mann, der bei einer englischen Provinzzeitung arbeitete, veranstaltete eine Reihe von Schulungen zum Thema Presse. Ungefähr zwanzig Leute wurden aufgefordert, sich eine beliebige Meldung aus dem
Herald
vorzunehmen und sie im Stil und mit der Tendenz des
Observer
, des
Guardian
(der kommunistischen Zeitung aus Kapstadt), des
Manchester Guardian
, des
New Statesman
oder des
Daily Herald
(der inzwischen eingegangenen Labour-Zeitung aus Großbritannien) umzuschreiben. Oder sich eine beliebige Nachrichtenmeldung auszusuchen und zu beobachten, wie sich die beschriebenen Entwicklungen von Tag zu Tag veränderten. Oder zu prüfen, welch unterschiedliches Gewicht die verschiedenen Zeitungen einer Meldung geben. Oder zu verfolgen, wie eine Aufmachergeschichte unter Umständen wochenlang zu Tode geritten wird, bevor sie buchstäblich über Nacht verschwindet und es danach praktisch unmöglich ist, auch nur das Geringste darüber in Erfahrung zu bringen. Es liegt wohl auf der Hand, dass eine solche Art der Ausbildung von keiner totalitären Regierung und ganz gewiss nicht von einer kommunistischen gefördert würde. Eine andere Erleuchtung hatte ich, als mir aufgetragen wurde, die Rede eines bestimmten Labour-Politikers mitzustenografieren, der für seine Redekunst berühmt war. Er fesselte sein Publikum bei jedem Auftritt. Als ich mein Stenogramm später las, stellte ich fest, dass er nichts ausgesagt hatte, aber auch rein gar nichts – kein Satz war zu Ende gebracht, kein Gedanke zu Ende geführt. Buchstäblich ein Blatt Papier voller Unsinn.
    Um mich zu ernähren, arbeitete ich in der Zwischenzeit als zweite Schreibkraft in einer Anwaltskanzlei, für zwölf Pfund im Monat. Es reichte knapp zum Leben, aber ich machte mir darüber genauso wenig Gedanken wie über meine Wohnsituation. Wir

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