Unter der Haut (German Edition)
ermessen lässt, wofür man sich wirklich interessiert hat, dann war es auch bei mir nicht die Politik. Erinnere ich mich an ein einziges Wort aus den Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Referaten? »Die zweite Front –
Jetzt!
«; »Die Schlacht um Stalingrad«; »Abwassersysteme in Großstädten«; »Die Lebensbedingungen der Landbevölkerung in Südafrika«; »Freiheit für Indien –
Jetzt
!«; »Die mexikanische Revolution«; »Mussolini und der Faschismus«; »Das Palästina-Problem«; »Das freie Frankreich«; »Picasso«; »Schostakowitsch«.
Ich erinnere mich an einen Abend in der Halle des Meikles Hotel, um mich herum trinken und rauchen Menschen, die zu drei unterschiedlichen Sphären meines Lebens gehören. Die Farmer und ihre Frauen, die zu den Tabakauktionen und zum Einkaufen in der Stadt sind. Die Beamten und ihre Frauen, und die Angehörigen der Royal Air Force, die sich um ihre Tische drängen. Auf der kleinen Bühne mit den Palmen spielt das Orchester – ja was? Heute kommt es mir so vor, als wären dieselben Melodien immer und immer und immer wieder gespielt worden, in den Hotels, in den Clubs und im Radio.
I’m dancing with tears in my eyes,
Because the girl in my arms isn’t you …
Mir gegenüber sitzt ein junger Mann aus dem Camp der Royal Air Force, ein Pilot in der Ausbildung. Er hat mich angerufen, weil ich bei einem der Treffen irgendetwas gesagt habe. Wir sind in eine Ecke gequetscht und beugen uns vor, um uns durch den Rauch hindurch sehen zu können – und weil wir in dem ganzen Lärm kaum etwas verstehen. Es war eine wichtige Unterhaltung.
Was ich zweifellos etwas schnodderig gesagt hatte, war, dass man nicht unbedingt als Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft haben müsse, um durch ihn zugrunde gerichtet worden zu sein.
Es handelte sich um einen ziemlich durchschnittlichen, liebenswerten jungen Mann, der nichts Besonderes an sich hatte, außer seinem dunklen, eigensinnigen Blick, mit dem er mich entschlossen ansah. Ich hatte mir selbst – und ihm – gesagt, dass ich eine Stunde Zeit hätte, doch drei Stunden später, als er ins Camp zurückmusste, saßen wir immer noch zusammen.
Wenn ich mir dieses Gesicht heute in Erinnerung rufe, kann ich den Jungen von neun, zehn Jahren sehen – der diesen verbissenen, halsstarrigen Blick schon damals hatte, weil er sein tiefstes Inneres, sein eigentliches Selbst, gegen den Druck von außen verteidigte. Als ich damals in der Lounge des Meikles Hotel saß, sah ich diesen Jungen nicht, nur den jungen Mann, dessen Entschlossenheit mir ein gewisses Unbehagen bereitete.
Sein Vater war im Schützengraben umgekommen. Der Liebhaber der Schwester seiner Mutter war ebenfalls gefallen. Die beiden Frauen wohnten in einer Kleinstadt auf dem Land, lebten von Zuwendungen ihrer Familie und verrichteten kleine, belanglose Arbeiten, wenn sie welche bekommen konnten. Ihre ganze Energie widmeten sie der Erziehung des Jungen. Das ganze Haus war voll von Fotos der beiden toten jungen Männer.
Als er zur Air Force gegangen war, um Pilot zu werden, hatte er das als Fluchtmöglichkeit aus einer kriegsgetränkten Atmosphäre betrachtet, die ihm die Luft zum Atmen nahm.
»Verstehen Sie das denn nicht?«, fragte er mit Nachdruck. »Ich hatte nie eigene Gedanken. Ich habe mir mein Leben lang
ihre
Gedanken zu eigen gemacht. Meine Gedanken waren die Gedanken zweier trauernder Frauen. Und Ihnen geht es genauso.«
Das gefiel mir nicht. Ich setzte mich zur Wehr, brachte Gegenargumente. Ich machte Witze. Das ließ er nicht durchgehen. Wir bestellten mehr Bier. Dann noch mal welches. Je betrunkener wir wurden, desto ernster wurden wir.
Er ließ nicht locker. Ich
musste
das verstehen, ich musste einfach, es war ihm außerordentlich wichtig.
»Sie kennen Ihre eigenen Gedanken nicht. Sie haben nur die Gedanken Ihrer Eltern gedacht. Ich habe nur die Gedanken meiner beiden Mütter gedacht. In meinem ganzen Leben hatte ich nie ein Gefühl, von dem ich hätte sagen können, dass es
mein
Gefühl war.«
Bald schon hörte ich ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Ich war eine ausgesprochen gute Zuhörerin.
Ich musste mich beim Zuhören anstrengen, weil die Stimmen rundherum so laut waren. Und wegen der Musik.
I love you, yes I do, I love you,
It’s a sin to tell a lie …
Millions of hearts have been bro-ken.
Just because these words were spo-ken …
»Sie sind genau wie ich«, sagte er beharrlich. »Wir sind uns da ganz ähnlich. Also gut, wenn Sie ein Gefühl
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