Unter der Haut (German Edition)
wohnten alle zur Untermiete oder in Pensionen, niemand hatte Geld, und die Flüchtlinge nahmen jede Stelle an, die sie nur kriegen konnten. Wir waren alle idealistisch, und Essen, Kleider und Geld bedeuteten uns nichts. Zumindest hatten wir uns geschworen, dass wir Essen und Kleidung keine besondere Bedeutung beimessen wollten. Ich traf mich oft mit Dora in einem Café und ließ mir erzählen, was zu Hause vor sich ging. Ich hasste diese Treffen, weil es so wehtat, aber ich musste es mir anhören, ich musste es erfahren. Frank hatte die Scheidung eingereicht und wollte Dolly Van der Byl dazu überreden, ihn zu heiraten. Ich habe nichts gegen die Scheidung unternommen, ich kam überhaupt nicht auf die Idee, obwohl ich es hätte tun können, denn er war schon vor mir untreu gewesen. Links stehende Frauen aus meiner Generation fanden es verabscheuenswert, wenn man die Scheidungsvereinbarungen nutzte, um aus einem Mann so viel wie nur irgend möglich herauszuholen.
Die Stunden in der Anwaltskanzlei, von acht bis vier, waren das, was ich dem weltlichen Dasein zugestand. Von vier Uhr nachmittags bis zwei oder drei Uhr morgens waren wir bei allen möglichen Treffen, Studiengruppen und Seminaren oder halfen mit, eine weitere neue Organisation zu gründen – es kam mir damals so vor, als wären auf einen Schlag mindestens ein Dutzend davon entstanden. Die »Medical Aid for Russia« diente, wie der Name schon sagt, dazu, Geld aufzutreiben, mit dem wir medizinische und andere Ausrüstung für unseren heldenhaften Verbündeten bezahlen konnten. Bei diesem Begriff handelte es sich um ein geradezu homerisches Attribut: Russland war immer »unser heldenhafter Verbündeter«. Aus taktischen Überlegungen heraus wurde das Ganze als absolut unpolitisch hingestellt, das heißt, über die glänzenden Vorzüge des Kommunismus wurde kein Wort verloren. Von Murmansk auf gefährlichen Wegen kommend, erreichten uns Kisten voller Fotos und Flugblätter, die uns die Botschaft in Johannesburg schickte. Es waren idealisierte Fotos und Geschichten. Wir veranstalteten Ausstellungen, versteckten oder vernichteten aber einen Großteil des Materials, weil es allzu peinlich war. »Der Große Vaterländische Krieg« und die damit einhergehende ekelhafte antideutsche Propaganda auf allerniedrigstem Niveau hätten in Rhodesien ganz einfach keinen Anklang gefunden, obwohl Lord Vansittart vielleicht seine Freude daran gehabt hätte. Wir hatten jedes Mal massenweise Besucher bei diesen Ausstellungen: Die Russen hatten die Deutschen quer durch Europa zurückgetrieben, und nichts, was von den Zeitungen im Lauf der Jahre berichtet worden war, hatte erklären können, wie sie das angestellt hatten. Zugunsten von Medical Aid kamen eine ganze Reihe von Vortragenden aus Johannesburg, alles Anwälte und Kommunisten, darunter einige, die später mutig die Menschen verteidigten, die von den Nationalisten als »Kommunisten« angeklagt wurden, obwohl sie eigentlich Gegner der Apartheid waren und für die Schwarzen einstanden. Die Veranstaltungen von Medical Aid waren »seriös«, der Bürgermeister oder Parlamentsmitglieder führten den Vorsitz, und es kamen jedes Mal mehrere Hundert Personen. Die »Friends of the Soviet Union« waren politischer; sie waren nicht direkt kommunistisch, aber hatten es sich doch zur Aufgabe gemacht, »die Wahrheit« über
Das sozialistische Sechstel der Welt –
dies der Titel eines damals populären Buches – zu sagen. Unsere Informationen bezogen wir aus den Unterlagen, die wir zugesandt bekamen. Darin war beinahe alles gelogen. Die Veranstaltungen der »Friends of the Soviet Union« waren weniger populär. Jeder von uns durfte nacheinander den Vorsitz führen. Der Left Club hatte die größte Teilnehmerzahl, traf sich einmal in der Woche und widmete sich allen möglichen Themen: »Die Situation in Peru«; »Die Verhältnisse in China« – wo sich damals gerade eine kommunistische Revolution zusammenbraute; »Moderne Musik«. Obwohl wir uns immerzu ermahnten, alles »unter Kontrolle zu behalten«, luden wir in unserer Begeisterung regelmäßige Besucher nach einem Treffen häufig erst einmal zum Kaffee ein und baten sie dann, ein Referat zu halten. Das nannten wir »Kadernachwuchsbetreuung«. Doch die meisten Leute aus dem Left Club, die »euch Kommunisten« immer wieder alles Gute wünschten, behaupteten, sich im Grunde nicht für Politik zu interessieren.
Wenn sich daran, was und wie viel man in Erinnerung behalten hat,
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