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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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gehörten, beispielsweise mit lebenslänglichem Zuchthaus, damit sie anständigen Leuten nicht mehr unter die Augen kamen. Ich staunte über die Sinnlosigkeit des Ganzen. Ich rief Mr. Barbour an, ich rief meinen alten Freund Mr. Hemensley an, ich rief die vermögenden Männer überall in der Stadt an und fragte, ob es nicht ratsam wäre, die Schulden zu streichen, da wahrscheinlich keiner von ihnen mehr als ein paar Shilling zurückbekommen würde, aber einer wie der andere war entsetzt. Mein Vorschlag drohe der Anarchie Tür und Tor zu öffnen. Schulden zu bezahlen ist eine Frage des Prinzips. Ich gab auf. Wo Prinzipien beschworen werden, ist es mit dem gesunden Menschenverstand vorbei.
    Aber es standen auf den Schränken auch Akten mit bekannten Namen, Schulden, die sich erledigt hatten, weil die Schuldner bankrottgegangen waren. Wenn ich Mary auf diese hinwies, wandte sie sich mit der Miene eines Menschen ab, der sich nicht durch unbequeme Fakten von seiner Überzeugung abbringen lassen wollte.
    Gottfried und ich waren wieder umgezogen, diesmal in eine Wohnung mit einem großen Zimmer, das wie geschaffen war für unsere damalige Lebensform, bei der ständig jemand mal eben hereinschaute, sowie für die Seminargruppen oder die informellen Diskussionen, die an den meisten Abenden stattzufinden schienen. Ich wunderte mich regelmäßig, wenn ich abends zu Bett ging, mit wie vielen Leuten ich tagsüber zu tun gehabt hatte. Trotzdem blieb ich in meinen Augen ein Einzelgänger. Ich sehnte mich danach, allein zu sein. Ich verlangte nicht viel – selbst gelegentlich eine Stunde hätte mir gereicht.
    Es war die Zeit, als die deutschen Städte bombardiert wurden. Ich traf Gottfried häufig auf seinem Bett sitzend an, den Kopf zwischen den Händen, wie er einen Zeitungsausschnitt in der Hand hielt oder Radio hörte. Oder er lag still in einem dunklen Zimmer, und das Aufglimmen der Zigarette, die er mit tiefen Zügen rauchte, ließ eine Kommode, einen schäbigen Vorhang, das Radio erkennen. Ich traute mich nicht, das Licht anzuknipsen.
    »Na«, sagte ich dann, »irgendwann muss der Krieg aus sein.«
    »Ja, es sind nicht gerade die angenehmsten Nachrichten.« Oder: »Sie haben eine ordentliche Tracht Prügel verdient, und es freut mich, dass sie die nun bekommen.«
    Wenn in der Wochenschau im Kino gezeigt wurde, wie die Bomben auf deutsche Städte niederregneten, sagte er tapfer: »So ist’s recht, gebt’s ihnen.« Oder er steckte sich in Gesellschaft, wenn wir die Zweite Front oder die Bombenangriffe auf Deutschland diskutierten, bedächtig eine Zigarette an, kräuselte die Lippen über dem Rauch und sagte: »Ja, wer falsche Entscheidungen fällt, muss dafür zahlen.«
    Er schlief schlecht und wimmerte im Schlaf oder schrie laut auf. Nur einmal weckte ich ihn mit den Worten: »Du hast einen Albtraum gehabt«, aber da wurde er böse und entgegnete: »Das stimmt nicht. So etwas darfst du nicht sagen.« Einmal sprach er eine Woche nicht mit mir, weil ich einen Witz über das Unbe- wusste gemacht hatte, auch wenn ich damit gar nicht auf seines hatte anspielen wollen. Deshalb sagte ich, wenn ich ihn aus seinen schlechten Träumen weckte, nicht: »Du hast schlecht geträumt.« Stattdessen rauchten wir gemeinsam eine Zigarette. Oder versuchten miteinander zu schlafen, weil wir glauben wollten, unsere Unvereinbarkeit wäre vielleicht ein vorübergehendes Missgeschick. Wir lagen oft lange wach und plauderten über die Leute in der Gruppe, aber seine Urteile waren meistens hart, und mir graute vor seinem kalten Tonfall. Er machte so schwere Zeiten durch, der arme Gottfried, in diesem Land, das er verachtete, umgeben von »sogenannten Kommunisten« und ungehobelten Kolonialisten. Gab es Leute, für die er so etwas wie Achtung empfand? Ich glaube, keine, außer Mrs. Maasdorp und Hans Sen, den Repräsentanten des Roten Kreuzes. Er unterhielt sich zwar gern mit den drei Royal-Air-Force-Offizieren aus Cambridge, fand sie aber seicht und bürgerlich. Es mag heute unglaublich erscheinen, aber es war damals nichts Ungewöhnliches, dass jemand aus privilegierten Verhältnissen andere aus den gleichen Verhältnissen dafür kritisierte, dass sie nicht aus der Arbeiterklasse stammten.
    Gottfried reagierte auch deshalb gereizt auf die drei Offiziere, weil ich mit ihnen flirtete. Ich war in zwei von ihnen verliebt – eine erklärungsbedürftige Aussage. Sicher sollte man doch nicht ein und dasselbe Wort für die Empfindungen der Lust und der

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