Unter der Haut (German Edition)
so: Sobald ich aufwachte, eilte ich ins Bad, weil Gottfried immer Stunden brauchte, wenn er mir zuvorkam. Ich war normalerweise in fünf Minuten angezogen. Keine Zeit zum Frühstück. Mit dem Fahrrad ins Büro. Mary war immer schon da, ein lebendiger Vorwurf für mich und alle weniger perfekten Sekretärinnen. Mittags traf ich mich mit Dora, um zu hören, wie die Dinge in der Fife Avenue liefen. In den Büros war um vier Uhr Feierabend. Dann ging ich häufig bei Mrs. Maasdorp vorbei, um für sie Zeitungsausschnitte abzuheften. Sie pflegte zu sagen, dass sich die Nachrichten zu ihren Lebzeiten stetig verschlechtert hätten. Als Kind hätte sie die Dinge, von denen sie jetzt so selbstverständlich lese, niemals geglaubt. Sie behauptete, dass die meisten Bücher und Artikel über den Zustand der Welt eine schlimme, wenn nicht verhängnisvolle Situation zeichneten und sämtlich mit einer Liste von Verbesserungsvorschlägen endeten, von der alle Welt wisse, dass niemand sie umsetzen werde. »Es hat keinen Zweck zu leugnen, dass die Lage ernst ist und dass es ständig weiter bergab geht, doch wenn wir alle …« Sie bezeichnete diese Bücher und Artikel als die »Doch-wenn-wir-alles«: »Wenn Sie noch eine halbe Stunde Zeit haben, könnten Sie vielleicht vorbeikommen und ein paar von den ›Doch-wenn-wir-alles‹ abheften.«
Von Mrs. Maasdorps Büro ging ich häufig zu Jack Allen.
Manchmal war die Polizei dort. Mehr als einmal hörte ich ungefähr folgende Unterhaltung mit:
»Was machen die ganzen Kaffern hier?«
»Sie sind zu Besuch. Setzen Sie sich, mein Junge, machen Sie es sich bequem.«
»Aber Mr. Allen, wenn jeder sich so verhalten würde wie Sie, dann gäbe es eine Revolution, und die Schwarzen würden uns die Gurgel durchschneiden.«
»Aber es verhält sich nicht jeder so wie ich. Ich wünschte, es wäre so.«
»Aber, Mann, Sie geben ein schlechtes Beispiel. Sie bringen die doch nur auf Ideen.«
»Glauben Sie bloß nicht, dass sie von mir irgendwelche Ideen kriegen, die sie nicht schon längst hätten.«
Der zerbrechliche, dürre, todkranke alte Mann mit seinen kühnen blauen Augen und dem Sauerstoffbehälter am Ellbogen schenkte dem großen, gesunden Polizisten, dessen Gesicht vor Argwohn und von der Anstrengung, die es ihn kostete, so schwierigen Gedankengängen zu folgen, verkniffen war, ein Lächeln.
»Aber sie sind verglichen mit uns so rückständig, das wissen Sie doch … Sie sind eben erst von den Bäumen gestiegen, und ihre Gehirne sind kleiner als unsere.«
Auf diese nicht totzukriegenden Wahrheiten des Rassismus reagierte Jack Allen mit einem Lachen und bat die Frau, mit der er zusammenlebte, Tee und Plätzchen zu bringen. Und wenn ein paar schwarze Kinder herbeigelaufen kamen und beim Anblick des weißen Polizisten zurückschreckten, dann sagte er vorwurfsvoll: »Sehen Sie das? Ich hoffe, Sie sind nicht stolz darauf, dass kleine Kinder vor Ihnen Angst haben?«
»Es ist mir recht, dass sie Angst haben, denn sie wissen, was gut für sie ist. Ach, zum Teufel, Mann, Mr. Allen, ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll, Sie verstoßen gegen das Gesetz, das ist Ihnen klar.«
»Ich glaube nicht, dass Sie ein Gesetz finden werden, das schwarzen Kindern verbietet, einen weißen Mann zu besuchen, in keinem Gesetzbuch.«
»Na gut, ich lass Sie diesmal laufen; aber das heißt nicht, dass es nächstes Mal genauso geht.
Wir
wissen, dass Sie nicht nur schwarze Kinder hier haben.«
Danach nahm ich mir oft Zeit für das, was Gottfried als »Sozialarbeit« abtat – ich half Leuten bei ihren Problemen mit den Fürsorgeämtern. Vielleicht machte ich auch einen Besuch bei meiner Mutter, bei der ich genau aufpassen musste, was ich sagte, da jede Erwähnung von Jack Allen oder Mrs. Maasdorp ihren ohnehin unermesslichen Kummer noch verstärkte. »Wie kannst du nur solche Leute in deinem Bekanntenkreis haben?« »Mrs. Maasdorp ist Bürgermeisterin von Salisbury, Mutter. Sie ist unsere Frau Bürgermeister.« »Mag sein, aber sie kümmert sich mehr um die Eingeborenen als um ihresgleichen.« »Und wie geht es Vater?« »Das weißt du doch. Ich bin mit meiner Weisheit am Ende.« »Und habt ihr was von Harry gehört?« »Nein.« »Mach dir nicht so viele Sorgen, ihm wird schon nichts passieren.« »Vielleicht hast du recht. Ich bete jeden Abend für ihn.«
Danach war vielleicht noch ein Treffen. Und dann vielleicht noch ein zweites. Oder es war der Tag, an dem der
Guardian
ausgetragen werden musste.
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