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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Liebe benutzen, oder? In den einen war ich auf so romantische Weise verliebt wie sonst selten in meinem Leben – mit ein oder zwei Ausnahmen. Diese Liebe hatte etwas Klassisches. Er musste bald aus der Kolonie fort, um Bombenangriffe zu fliegen, und würde in Lebensgefahr schweben, ein wahrhaft starkes Liebeselixier. Ich war verheiratet und ungefähr fünf Jahre älter als er. Unsere Begegnungen fanden stets in der Öffentlichkeit statt, unter den Augen der Gruppe. Ich flirtete, weil
ich ein Recht darauf
hatte und aus einer uralten, wilden weiblichen Rechtfertigung heraus: Gottfried war impotent, welches Recht hatte er also – und so weiter? Und außerdem, was war mit all den heiratsfähigen jungen Frauen, die – wie in jeder politischen Gruppe gleich welcher Richtung – davon träumten, die Gunst des obersten Kopfes zu erwerben?
    Aber das eigentlich Deprimierende, das Schlimmste war, dass Gottfried für einen alten Geizkragen arbeitete, der ihn nie mit einem Wort lobte, obwohl er derjenige war, der für ihn die Anwaltskanzlei aufbaute.
    Was dieser unglückliche Mann damals brauchte, war so einfach und so offensichtlich – heute, Jahrzehnte später, begreife ich das. Früher, in seiner luxuriösen Kindheit, wo seine schicke Mutter Partys gab und Gäste unterhielt, wo sein Vater das Familienvermögen beisammenhielt und in der Bibliothek las, wo seine elegante Schwester das Leben eines reichen jungen Mädchens führte, lebte in der Familie außerdem die Kinderfrau, die russische
njanka
, der gute Geist des Hauses, die erst die Mutter geherzt und gezüchtigt hatte und dann die kleinen Kinder der Mutter. Wie in einer englischen Familie dieser Schicht war es die Kinderfrau, die die Kinder großzog und liebte. In Tschechows
Onkel Wanja
gibt es eine wundervolle Szene, in der ein mäkeliger und reizbarer, kränkelnder Professor spätabends mit seiner jungen Frau zusammensitzt, die mit vernünftigen Bemerkungen auf ihn einzuwirken versucht; aber dann kommt die alte Kinderfrau herein und behandelt ihn wie ein kleines Kind, küsst und streichelt ihn wie ein Kind, und der arme Pedant schmilzt vor Liebe dahin und lässt sich friedlich ins Bett bringen.
    Gottfried hatte eine geduldige junge Frau, die zwar lieb war, aber zu sehr Frau, als dass sie es sich gestattet hätte, ihren Mann wie ein Baby zu behandeln, nicht einmal während ein paar Stunden im Dunkeln. Außerdem hätte er es wahrscheinlich auch gar nicht geduldet, genauso wenig wie er zugeben mochte, dass er schlecht geträumt hatte oder dass er um die zerbombten deutschen Städte weinte.
    Szene auf Szene aus dieser Zeit, aus diesen Nachtstunden … Das Schlafzimmer füllt sich mit Zigarettenrauch, den man im Licht vom Fenster sieht, Hundegebell, aus den Gärten der Duft von blühenden Sträuchern. Stille, denn es herrscht kaum Verkehr. Von Gottfried ein säuerlicher Geruch, von dem ich jetzt weiß, dass die Angst ihn hervorruft. Damals dachte ich: Komisch, sogar sein Geruch ist mir fremd. Vielleicht ist das eines der elementaren Dinge, die man Kindern beibringen sollte: Wenn jemand so riecht, heißt es das und das, und ein säuerlicher Geruch bedeutet, dass jemand Angst hat oder unglücklich ist.
    Ich rannte zu jener Zeit herum wie ein aufgescheuchtes Huhn. Ich musste jeden Tag Zeit finden für Leute, die nichts voneinander wissen durften. Aber so ist mir das fast mein Leben lang ergangen.
    Fünfzehn Jahre später in London lud ich, weil ich diese Aufteilung meines Lebens leid war, zwei junge Leute vom sowjetischen Außenhandelsverband, die ich auf einer Party kennengelernt hatte, zum Essen ein, um sie mit einem Amerikaner bekannt zu machen. Er war derzeit gerade hundertprozentig auf Freud eingeschworen, da er sich nun mal an diesem Punkt des heutzutage üblichen Wegs von Marx über Freud zum Schamanismus befand. (Es ist erstaunlich, wie viele ehemalige Marxisten inzwischen ihr Geld als Erleuchtete verdienen.) Meine Absicht war es, Mauern einzureißen, Horizonte zu erweitern. Ich kochte ein wohlschmeckendes Mahl, doch keiner aß auch nur einen Bissen, denn die ideologischen Gegner gönnten sich einen Blick, rüsteten sich zum Kampf und fingen auf der Stelle an, sich gegenseitig Schlüsselsätze ihrer Glaubensschulen an den Kopf zu werfen. Eine halbe Stunde später waren sie auf und davon und liefen lauthals aufeinander schimpfend die Treppe hinunter. Ihre Gastgeberin hatten sie vergessen.
    Ein typischer Tag in dieser kurzen Phase – 1944 , 1945  – verlief

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