Unter der Haut (German Edition)
Menschenmengen, die in London und Paris feiern, aber ich bin auch in Deutschland, und das liegt an Gottfried, der in den letzten Wochen täglich unzählige Stunden vor dem Radio verbracht und die Kriegsberichterstattung aus Europa verfolgt hat, die Berichte über die Abermillionen von Flüchtlingen, das allgemeine Chaos. Wie am Ende des Ersten Weltkrieges, nur noch viel schlimmer. Ich spürte keine Freude an der Trauer, diesem vergifteten Brunnen, damit war ich ein für alle Mal fertig. Ein paar Stunden zuvor war ich bei meinem Vater gewesen, einem schwer kranken, bettlägerigen alten Mann, und er hatte gesagt: »Dann fangen sie jetzt wohl gleich an, den nächsten vorzubereiten.«
Aber es war das Ende, nach den langen Jahren des Krieges. Nun ja, eigentlich nicht das Kriegsende, nur das Ende des Krieges in Europa.
Ich machte mich auf den Heimweg durch die aufgeregten Menschenmengen – natürlich fast nur Weiße, wegen der Ausgangssperre –, und dort fand ich Gottfried mit Simon Pines bei einer Flasche Wein. Simon war ein Flüchtling aus Litauen und wie Gottfried, wie alle Flüchtlinge, mit denen wir befreundet waren, an diesem Abend im Geiste auf dem europäischen Festland, nicht in Großbritannien. In das Zimmer zu treten war wie ein Sprung aus dem heißen ins kalte Wasser. Gottfried wusste nicht, was mit seiner Mutter, seinem Vater, seiner Schwester geschehen war. Simons Verwandte waren erst von den Deutschen und später von den Russen überrannt worden. Er rechnete damit, dass sie tot waren. Normalerweise war er voller aggressiver, rastloser Energie, aber nicht heute. Simon und ich verstanden uns gut – wohl weil wir beide auf dem Land groß geworden waren. Wir brachten uns gegenseitig zum Lachen, indem wir Erinnerungen aus alten Zeiten austauschten. So sagte er zum Beispiel: »Willst du wirklich behaupten, dass ihr eure saure Milch den Hühnern gegeben habt? Wir haben sie selber gegessen. Dickmilch mit Kartoffeln – das kann ich dir gern mal kochen.« Ich blicke zurück und kann die düstere, besorgte Stimmung an jenem Abend
fühlen
, ich blicke zurück und kann uns drei vor mir
sehen
: Gottfried, der in seinem eleganten Anzug aussieht wie Conrad Veidt, die Hand mit dem blauen Stein lose um das Weinglas gelegt, sein glänzendes, schwarzes Haar. Daneben Simon, ein untersetzter, braun gebrannter Mann in Kaki-Uniform – ein Bär in Kaki, wie er selbst zu sagen pflegte –, und ich an den Kochplatten, wo ich das Abendessen kochte, für sie und für alle anderen, die wahrscheinlich noch vorbeikommen würden, wenn sie genug davon hatten, singend durch die Straßen zu laufen und
The White Cliffs
zu singen.
Unsere neue Wohnung war seltsam geschnitten, sie lag im »Leander House«, einem Gebäude an der Jameson Avenue, heute Samora Machel, an der Stelle, wo das Jameson Hotel steht. Es war ein zweigeschossiges Gebäude. Unsere Wohnung bestand aus einem großen Zimmer, das man von einem sehr breiten Korridor aus betrat, der das Erdgeschoss teilte. Hinter dem Zimmer führte ein zweiter Flur von nirgendwo nach nirgendwo, weil er zwischen der Außenwand des Gebäudes an der Seite zur Jameson Avenue und der Wand des großen Zimmers verlief. Es war weder ein Flur noch ein Zimmer. Wir hatten darin einen großen Kleiderschrank, eine Kommode und bald auch einen Kinderwagen und ein Gitterbettchen stehen, alles nebeneinander an der Wand entlang aufgereiht. Dieser lange Raum verlief L-förmig und wurde hinter der Ecke zu einem schmalen Zimmer, in dem ein kleiner Kühlschrank und zwei elektrische Kochplatten auf einer Marmorplatte standen. In das Badezimmer gelangte man durch diese Küche. Von der Innenwand des großen Zimmers gingen zwei Fenster auf einen kleinen Hof hinaus. Gegenüber, auf der anderen Seite des Hofes, lag eine Wohnung, die genauso geschnitten war wie unsere, dort wohnte eine Mutter mit ihrer Tochter.
Der Umzug in diese Wohnung war das sichtbare Zeichen einer Veränderung in unserem Lebensstil und Rhythmus gewesen. Unsere Parteigruppe hatte sich langsam aufgelöst. Wir fühlten uns zwar alle noch als Kommunisten, verstanden uns aber nicht mehr als Gruppe. Die von Gottfried verkündeten Prinzipien solider Organisation bewahrheiteten sich: Die Zeiten, in denen jede und jeder von uns als Sekretär, Bibliothekar oder Vorsitzender von einem halben Dutzend Organisationen fungierte, waren vorbei; diese Arbeit machten jetzt andere. Die Piloten der Royal Air Force waren zu Einsätzen über Europa abkommandiert
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