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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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jüdischer Abstammung. (Eine solche Unterscheidung wäre ihnen albern erschienen.) Ich entsinne mich nicht, von ihnen jemals eine antisemitische Bemerkung gehört zu haben. Außerdem fingen wir gerade erst an zu begreifen, was mit den Juden in Europa passiert war. Erst so spät. Es war uns bis dahin »nicht wirklich bewusst« gewesen. Was heißt da »uns«? Die Sicht meiner Eltern und ihresgleichen war weit weniger düster als die der Linken. Wir – die Linke – waren stolz darauf, dass wir unsere (die britische) Regierung und Regierungen allgemein seit Jahren mit Nachdruck aufgefordert hatten, mit der Wahrheit über Hitlers Judenpolitik herauszurücken. Es stellte sich heraus, dass wir nicht viel besser informiert waren als meine Eltern. »Es ist schrecklich, was Hitler mit den Juden macht.«
    Unsere Sicht lautete ungefähr folgendermaßen: Hitler brachte zunächst alle seine deutschen Gegner um – Kommunisten, Sozialisten, Katholiken, Protestanten. (Erst seit Kurzem erinnert man sich wieder an diese mutigen Menschen.) Danach ging er zur Verfolgung und Ermordung von Juden, Zigeunern, Homosexuellen und geistig Behinderten über. Er machte sie zu Zwangsarbeitern, die so schlecht behandelt wurden, dass sie dabei umkamen. Dass es die Todeslager wirklich gab, war noch nicht bei uns »angekommen«. Das Problem ist, wenn der Verstand nicht bereit ist, etwas wahrzunehmen, dann werden Fakten ausgesondert. Unsere Sicht auf die Dinge – die Sicht der Linken – war nicht weniger konventionell als die der meisten. Auch für uns war der Krieg eine Sache von Alliierten und Gegnern, Kriegsschauplätzen und den großen Schlachten, die eine Wende herbeiführten: die Schlacht um England, die Atlantikschlacht, Nordafrika, Stalingrad, Belagerungen wie die von Leningrad, Niederlagen wie die von Dünkirchen … Natürlich gab es Flüchtlinge. Natürlich gab es die grausamen Morde an den Gegnern. Doch was mir jetzt Angst macht, ist, dass wir das, was spätere Generationen mit Sicherheit als das Schlimmste bewerten werden, als das charakteristische Merkmal der Zeit,
unserer
Zeit – dass wir das kaum wahrgenommen haben. Das wichtigste Phänomen, mit seinen Implikationen für die Zukunft von uns allen, war auf unserer Weltkarte nicht verzeichnet. Der kaltblütige Mord an Millionen von Menschen – systematischer Mord. Systematische Folter. Gaskammern. Konzentrationslager. Arbeitslager. Völkermord. Ethnische Säuberungen. Unsere geistige Weltkarte war noch unschuldig. Dies war ein Krieg der Schlimmen gegen die noch Schlimmeren. Es war ein guter Krieg, trotz allem.
    Ich habe heute so meine Zweifel, dass der mythische Beobachter droben im Himmel es auch so sähe.

Kapitel Sechzehn
    An diesem Krieg war die ganze Welt beteiligt, zahllose verschiedene Völker mit ihren spezifischen Erfahrungen. Was war ihnen nur gemeinsam? Dem Soldaten, der in Italien oder in Birma oder Stalingrad gekämpft hatte – ein echter Frontkämpfer. Flüchtlinge. Kriegsgefangene. Zivilisten aus besetzten Ländern. Und dagegen die Menschen, die aus sicherer Entfernung, Tausende von Kilometern weit weg, den Kämpfen zugeschaut hatten? Eines erlebten alle, das war die Tatsache, dass die Bevölkerungen ganzer Länder aufgerüttelt und umhergewirbelt wurden und auf diese Weise Leute aufeinandertrafen, die sich sonst nie begegnet wären. Wenn ich von meiner heutigen Warte zurückblicke, ist es dieses Phänomen, das mir zuallererst in den Sinn kommt: das Zusammentreffen der unterschiedlichsten Menschen – und sofort überkommt mich ein Gefühl von freudiger Erregung und Energie. Habe ich damals so gefühlt? Ja, häufig. Aber das Gedächtnis macht aus Erinnerungen gern Komödien. Nach vielen Jahren erscheint einem ein Erlebnis, das schmerzlich oder gar beängstigend war, manchmal bloß noch absurd. Ich muss mir gewaltsam in Erinnerung rufen, dass Streit oder Ereignisse, die ich hier humorvoll beschreibe, auch schon mal zu Gewalttätigkeiten führten. Ich frage mich ungläubig, ob es wirklich möglich war, dass mein guter Freund Mark meinen guten Freund Abe tätlich angegriffen hat, weil Mark ihn als typischen Intellektuellen bezeichnet hatte. (Man ist versucht sich zu fragen, was die eigentliche Ursache ihrer Auseinandersetzung gewesen ist.) Oder dass bei einem Vortrag über den von Stalin protegierten sowjetischen Wissenschaftler Lysenko und dessen Theorien über die Vererbung erworbener Merkmale (»Linientreue« erforderte die Übernahme seiner Vorstellungen)

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