Unter der Haut (German Edition)
zwischen den hängenden grünen Farnblättern stand, war sie eine schmächtige, aufrechte, hübsche Engländerin in einem unempfindlichen Kleid und mit dicken Gartenhandschuhen. Sie ging leichtfüßig ins Zimmer: »Sieh mal, Schatz, wie schön, wir haben Besuch.«
Kurt saß nachdenklich in einem Sessel, der zu klein für ihn war. Er war ein großer Mann, eher kräftig als dick, mit einer Haut, die so dunkel war, dass sie oliv- oder bronzefarben wirkte. Ein bronzefarbener Mann mit einem massigen Gesicht, hohen Wangenknochen, einer ziemlich platten, fleischigen Nase und kleinen, dunklen, wachen Augen unter kräftigen Brauen. Sein kurz geschnittenes Haar betonte noch die plumpe Kopfform. Er war hässlich, aber er hatte etwas Faszinierendes. Er war in Wien geboren und aufgewachsen, und wir waren uns, mit seiner gleichgültigen Zustimmung, einig geworden, dass er mongolische Vorfahren haben musste. Damals sagte man: »Der und der muss mongolisches Blut haben«, jedenfalls wenn man nicht »fortschrittlich« war. Weil wir Progressiven durch das Wort »Gene« noch nicht von dem Wort »Blut« erlöst worden waren, mussten wir in Diskussionen höllisch aufpassen. Esther, die sich nicht für Politik interessierte, war unbefangen. Sie konnte ihren Mann mit ihrem kühlen, aber liebevollen Lächeln betrachten und laut nachdenken: »Wenn man bedenkt, wie viele Jahrhunderte lang die Mongolen immer wieder in euren Teil der Welt eingefallen sind, dann muss es doch jede Menge mongolisches Blut geben. Wie bei uns mit den Wikingern.«
»Esther, ich bitte dich, nicht das Wort
Blut.
«
»Aber warum denn nicht?«
»Wegen Hitler«, stöhnte er und fixierte sie mit seinem traurigen, ach so geschichtsbewussten Blick. Einem Blick, dem sie allerdings stets tapfer begegnete. »Ich bin aber nicht Hitler, oder?«
Sie stammte aus einer englischen Provinzstadt. Versuchte man, sich das genaue Gegenteil von ihr vorzustellen, musste es Kurt sein, und sein Gegenstück musste Esther sein. Beim Anblick dieser beiden Geschöpfe – das eine so leicht und flink und voll von gesundem Menschenverstand, das andere so schwerfällig und unbeweglich und gequält – konnte man nur über die unbegreiflichen Wege der Natur staunen. Sie war Lehrerin und arm, weil sie den größten Teil ihres Gehaltes nach England zu ihrer kranken Mutter schickte. Kurt arbeitete für das Bauamt, weil er keine bessere Stelle hatte finden können. Er war Doktor der Philosophie. Das war seine Ausbildung für Hitlers Europa gewesen. Wenn es keinen Krieg gegeben hätte, wäre er sein Leben lang mit Sicherheit an einer Universität geblieben oder hätte bei einer Zeitung gearbeitet und Gespräche in Cafés geführt. Tatsächlich war seit seinem zwölften Lebensjahr der größte Teil seiner Zeit mit Gesprächen ausgefüllt gewesen. Kurz gesagt, er war ein Intellektueller, ein Wort, das in diesen Jahren noch stärker emotional belastet war als sonst.
Wenn es eines gab, das uns ungehobelte Südrhodesier faszinierte, dann war es die Tatsache, dass diese Flüchtlinge allzeit, Tag und Nacht, politisch, ideologisch dachten und redeten. Natürlich redeten wir – vor allem in den Landesteilen, wo man von der Landwirtschaft lebte – über Politik, aber wir hatten nicht bedacht, dass die Launen der Regierung und der Company etwas mit der großen Politik zu tun hatten. Diesen Immigranten war ihre intellektuelle Haltung so wichtig, dass sie uns erzählten, welcher Richtung sie sich zurechneten, bevor wir sonst etwas über sie wussten. »Sehen Sie, ich bin Freudianer.« »Ich bin Marxist-Leninist.« »Reich!« »Jung!« Sie hörten nie auf zu argumentieren, zu diskutieren und zu streiten. Ihre Fehden waren stumm und verächtlich oder laut und leidenschaftlich.
Gottfried pflegte zu sagen, dass Kurt bloß ein Intellektueller sei, der seine eigentliche Bildung aus den Wiener Kaffeehäusern habe und später aus einer Kommune, einem sogenannten idealen Kollektiv, in Wien. Dieses Kollektiv war nach der Ideologie eines der psychologischen Genies in der Nachfolge von Freud aufgebaut. Kurts Reden, oder vielmehr seine Monologe, wandten sich immer wieder seinen Jahren in der Kommune zu. Er saß dann vorgebeugt in seinem Sessel, als hätte ihn das Bedürfnis gepackt, nach einer Idee zu greifen, die er erst vage im Blick hatte, während ihn das Gewicht seiner Knochen, seines Körpers, die Lasten des materiellen Lebens leider an diesen lächerlich leichten Sessel fesselten. Seine und unsere Gedanken waren
Weitere Kostenlose Bücher