Unter der Haut (German Edition)
von Welten getrennt, er schwebte auf einem ganz anderen Niveau. Er verfolgte in Gedanken eine Wahrheit, die er eines Tages finden würde, um sie ein für alle Mal festzuhalten; um sie, bei lebendigem Leib auf eine Nadel aufgespießt, vorzuführen: »Da! Ich habe es euch doch
gesagt!
« Er konnte nicht still sitzen, sondern zappelte unentwegt, wippte mal mit dem Fuß, trommelte mal mit den Fingern auf der Sessellehne.
»Das
müsst
ihr begreifen! Wir haben es geschafft! Darum geht es doch! Wir haben jahrelang ein ideales Leben gelebt, das Leben von Genossen!
Wahren
Genossen!« Und an dieser Stelle bedachte er Gottfried oder jeden anderen Musterkommunisten, der gerade zur Stelle war, mit einem anklagenden Blick. »Wir teilten alles, alles! Wir besaßen nichts, nichts als unsere Kleider. Jeder durfte eine Jacke, eine Hose, zwei Hemden, einen Pullover und etwas Unterwäsche besitzen. Das war alles. Wir teilten unser Essen, unser Geld und unsere Bücher.« Und sein Blick schweifte ruhig und triumphierend über die Runde.
»Muss den Mädchen schwergefallen sein«, bemerkte Esther vielleicht. Sie saß dabei und nähte oder strickte, legte aber ihre Arbeit beiseite, um ihm zuzulächeln. Sie sprach mit ihm stets nur in sanftem, respektvollem Ton. Das muss Liebe gewesen sein. Andere Leute fanden ihn vielfach anstrengend oder schlicht unmöglich, aber sie wusste, dass in diesem Caliban etwas Wundervolles steckte, und deshalb hatte sie ihn geheiratet. Sie nannte ihn Kurt, mit einem kräftigen
r.
Die meisten von uns unbelehrbaren Kolonialbewohnern sprachen seinen Namen englisch aus,
Curt
, genau wie die meisten zu Gottfried Godfrey sagten.
»Wenn du mich
Kurt
nennen kannst, um mir zu zeigen, dass du mich und meine Sprache achtest, warum kannst du diesen Mann nicht mit seinem richtigen Namen ansprechen?« Er meinte den Koch. »Sein Name ist Mfundisi. Sag’s!«
»In seinem Pass steht Shilling.«
»Aber das ist nicht sein richtiger Name. Du hast einfach kein Gefühl dafür, wie wichtig der Name eines Menschen ist. Ihr habt ihnen ihre Namen weggenommen, um ihnen alle möglichen blödsinnigen Namen zu geben. Sixpence. Ticky. Shilling. Blackbird.«
»Viele kriegen aber auch sehr hübsche biblische Namen«, entgegnete Esther, die diese Namen nicht aus religiösen, sondern aus ästhetischen Gründen mochte.
»Aber sie haben sich die Namen nicht ausgesucht. Esther, du musst das wirklich begreifen. Es ist wichtig.«
»Ich habe mir Esther auch nicht ausgesucht. Mich hat niemand gefragt.«
»Ihr Engländer, euer Verhalten ist schlicht unverzeihlich. Die Geschichte wird euch niemals verzeihen.«
»Aber ich habe ihnen die Namen doch nicht weggenommen. Ich war nicht hier. Ich bin erst ein paar Monate vor dir hier angekommen.«
Und zur Kommune: »Du begreifst das nicht, Esther. Manchmal sagst du etwas voller Feingefühl und Verständnis, und ich denke: Ja, sie hat es verstanden. Aber du begreifst es doch nicht. Versteh doch, die Frauen glaubten an das ideale Leben. Sie waren oft unsere Inspiration, wenn wir schwach wurden. Sie bewahrten uns vor der Versuchung. Keine von ihnen machte sich etwas aus unwichtigen Dingen wie Kleidern oder Lippenstift.«
Esther nahm ihre Näharbeit mit einem schuldbewussten, aber entschlossenen Blick wieder auf. Ihre Hände waren nie untätig. Wir hielten in unseren Zigaretten. Durch Wolken von Zigarettenrauch betrachteten wir das ideale Leben, das im oberflächlichen Salisbury nicht zu finden war, sondern nur in Europa, in Wien, wo wir uns alle hinwünschten, um zusammen mit anderen edlen Naturen ein edles Leben zu führen.
»Es war wunderbar«, schwärmte Kurt, wobei er dorthin starrte, wo die Planierraupen noch mehr Busch rodeten, um für den wuchernden Vorort Platz zu schaffen – auf zersplitterte Bäume, aufgerissenes Erdreich, zertrümmerte Steine. »Wir haben bewiesen, dass ein Leben ohne Armut, ohne Eigentum möglich ist.«
Hier konnte Gottfried einwerfen: »Kleinbürgerlicher Idealismus.«
»Und ohne Eifersucht. Eifersucht war verboten.«
Hier zog Esther die Augenbrauen hoch.
»Ja, doch, es stimmt. Dann bekam eines der Mädchen ein Kind, und damit war es aus. Alle fingen an sich zu streiten, und plötzlich zogen sich die Paare in ihre eigenen Zimmer hinter verschlossene Türen zurück. Es war entsetzlich, ganz entsetzlich.«
»Aber
Kurt
«, sagte Esther sanft, »das hätte euch doch jeder sagen können, dass es bis zum ersten Kind gut gehen würde. Das muss euer Professor Fischel doch
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