Unter der Haut (German Edition)
hineinzuschütten, wonach er die Tasse unverwandt düster und widerwillig anstarrte, bis ich sie wieder vollschenkte. »Nein, ich bin nicht für solche banalen Tätigkeiten geschaffen, und ich kann mich nicht als jemand ausgeben, der ich nicht bin.«
»Und was sagen die in deinem Büro dazu?«
»Es kann mir niemand vorwerfen, dass ich meiner Arbeit nicht nachgehe. Ich tue genug. Im öffentlichen Dienst arbeitet niemand besonders schwer, und ich halte mich nur an eure Gepflogenheiten. Außerdem genießt mein Chef es, mich zu verachten. Esther sagt, ich bilde mir das ein, aber dann sage ich: Nein, Esther, dein gutes Herz und deine behütete Kindheit in England, das ist nicht die beste Vorbereitung auf das Leben. Du hast keine Vorstellung davon, was böse ist. Ich durchschaue den Mann, und er weiß es. Ich bringe ihm eine Akte zu irgendeiner Sache, Straßen oder irgend so ein Quatsch, und ich gebe ihm die Akte, und er gluckst schon los, bevor er sie aufgeschlagen hat: ›Wann sind Sie gestern Abend zu Bett gegangen?‹, fragt er und platzt dann laut heraus, als hätte er einen prächtigen Witz gemacht. ›Sie werden es nicht glauben‹, sage ich zu ihm, ›da Sie in einem Land leben, wo alle um zehn im Bett liegen, aber es gibt Leute auf der Welt, die den Schlaf verachten. Sie ziehen es vor, die Nacht mit Diskutieren zu verbringen. Oder gar mit Denken.‹ Dann schlägt er die Akte auf und grinst höhnisch: ›Machen Sie das noch mal, da stimmt was nicht. Dann bringen Sie mir den Vorgang wieder, und wir
diskutieren
darüber.‹ Und damit klappt er triumphierend die Akte zu. Einmal hat er eine nach mir geworfen. Und so verbringe ich meine Tage. Wenn ich daran denke, was aus mir geworden ist, könnte ich verzweifeln.«
Nach dem Krieg waren Tausende von Flüchtlingen keine armen, verzweifelten Schlucker mehr, sondern Geschäftsleute und Farmer, Im- und Exporthändler und Bauunternehmer, hatten Speditionen gegründet oder spielten in Orchestern. Ein talentierter Haufen. Ein wertvoller Zuwachs für die Kolonie. Aber Kurt blieb im Bauamt. »Ich habe nicht die Absicht, mein Leben mit Geldverdienen zu vergeuden«, sagte er, und Esther schenkte ihm einen zärtlichen Blick. »Zum einen reicht ein Leben nicht, um alle Bücher zu lesen, die man gelesen haben sollte. Kennst du …?«
Oft kannte ich es nicht.
»Du bist sehr ungebildet. Wer im zwanzigsten Jahrhundert lebt und nicht das Gesamtwerk von Freud, Jung, Adler, Klein und Reich gelesen hat, hat keine Ahnung von den wichtigsten geistigen Einflüssen unserer Zeit.«
»Und was ist mit Marx?«
»Das ist doch lächerlich.«
»Zumindest scheint er derzeit einen gewissen Einfluss zu genießen.«
»Bloß eine vorübergehende Erscheinung.«
»Und Freud und Jung und all die anderen sind keine vorübergehenden Erscheinungen?«
»Ich kann einfach nicht verstehen, wieso du das nicht begreifst«, jammerte er.
Später wurde Esther, wie es ihr zustand, Schulleiterin. Sie wollte, dass er das Bauamt verließ und sich seinem Buch widmete. Er war angeblich ständig bei der Arbeit an seinem Buch, das er, wie er sagte, als Ganzes im Kopf hatte.
»Warum sollte ich es herausbringen, wenn es schon perfekt ist? Damit es von Dummköpfen missverstanden wird?«
»Aber Kurt, jeder muss damit rechnen, dass ein wirklich gutes Buch missverstanden wird.«
»Es ist mehr als bloß ein gutes Buch. Es ist ein
richtiges
Buch. Es gibt nur ein halbes Dutzend richtige Bücher.«
»Und die wären?«, wollte ich wissen.
»Zunächst einmal
Don Quixote
.«
»Und dann?«
»
Hamlet.
Ein Mann, der zu hochherzig ist für seine kleinliche Umgebung. Und dann
Der Mann ohne Eigenschaften.
Wovon du natürlich noch nie gehört hast.«
»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.«
»Dann kannst du es nicht verstanden haben. Dann noch Stendhals
Über die Liebe.
Aber um das zu verstehen, bist du noch zu jung.«
»Kein Widerspruch erlaubt, nicht?«
»Nein. Aber die Zeit wird viele deiner Fehler wiedergutmachen.«
Die Liste der
richtigen
Bücher enthielt jedes Mal andere Titel.
Mittlerweile hatte ich das Manuskript von
Afrikanische Tragödie –
in der endgültigen Fassung – einigen Leuten zu lesen gegeben. Darunter Kurt und Esther. Ihr gefiel es nicht, weil es kein hoffnungsvolles Bild der Rassenbeziehungen zeichnete; Kurt gefiel es nicht, weil es in englischer Sprache verfasst war. Er war mit Joseph Conrad einer Meinung, dass das Englische eine für den Roman ungeeignete Sprache sei und nur das
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