Unter der Haut (German Edition)
gewusst haben.«
»Und woher hätte er das wissen sollen? Er war ein großer Mann. Er interessierte sich nur für die wahren Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen. Wir schafften die Armut ab – wir hatten einen Schlusspunkt gesetzt! –, und dann kommt ein Kind, ein einziges Kind! Und peng, aus war’s. Die Geburt eines Kindes ist nicht die Angelegenheit seiner Eltern, ein Kind wird der ganzen Welt geboren, der ganzen menschlichen Gemeinschaft.« Er hielt inne, um seine Zuhörer anzusehen. Einige Augen glänzten. Andere glänzten ganz und gar nicht. »Wir liebten einander. Wir vertrauten einander, und dann, puff! Nur ein winziges Kind und – alles aus!«
Die wahren Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen waren wirklich etwas, das uns alle brennend interessierte.
»Moment mal, Curt«, fragte Jane, eine von uns, nach. »Du willst uns ernsthaft weismachen, dass ihr alle miteinander geschlafen habt und dass niemand eifersüchtig war?«
»Ja, das ist genau das, was
Kurt
sagt«, entgegnete Esther, während sie einen Faden einfädelte oder Maschen zählte.
»Du meinst, wenn zwei Männer in eine Frau verliebt waren oder zwei Frauen in einen Mann, dann herrschte Friede, Freude, Eierkuchen?«
Kurt wippte mit dem Bein auf und ab, trommelte gereizt mit den großen Wurstfingern, starrte auf die Wand oder auf sein unsichtbares Ideal. »Ihr begreift das nicht. Wir liebten uns alle. Wenn so etwas passierte, dann waren wir
nett
zueinander.«
Die Genossen warfen sich ein geduldiges und ironisches Lächeln zu: Die Zukunft war auf ihrer Seite.
»Trotzdem, das kann doch nicht ohne Liebeskummer abgegangen sein«, sagte Esther nachdenklich.
»Schmerzen und Leid«, verkündete Kurt, »gehören zum Leben. Es sind die Geburtswehen, die uns zu wahrer Menschlichkeit emporwachsen lassen.«
Über diese Bemerkung dachten wir alle nach, jeder von seinem ideologischen Standpunkt aus.
Esther sagte: »Ich finde, es spricht sehr für euch, dass ihr es so lange geschafft habt.«
»Ja, und es waren mindestens drei Jahre. Und dabei darf man nicht vergessen, dass der Krieg …«
»Das ist aber nicht sehr lange«, sagte Jane, die erst vor Kurzem zu uns gestoßen war. »Ich denke, ein, zwei Jahre könnte ich auch dem Ideal entsprechend leben. Ihr müsst ja sehr zufrieden gewesen sein mit euch. Habt ihr euch alle einer Analyse unterzogen?«
»Natürlich. Darum ging es ja. Professor Fischel hat uns alle analysiert.«
»Willst du damit sagen, dass ihr alle von einem einzigen Analytiker betreut wurdet? Wie viele wart ihr in der Kommune?«
»Wir waren acht. Weißt du, es wollten viel mehr mitmachen, aber nicht alle waren geeignet.«
Schweigen.
»Ich finde wirklich, dass es eine sehr eindrucksvolle Leistung war«, wiederholte Esther und warf uns allen nacheinander einen Blick zu. »Aber ich finde, Professor Fischel hätte ein paar Zugeständnisse machen müssen, was die Besitzansprüche für das Baby betraf.«
»Ist doch nur menschlich!«, sagte Jane.
»Eine Tragödie«, trauerte Kurt. »Mit der Geburt des Kindes ist ein Traum gestorben.«
»So wie du redest, hätte es deins sein können«, sagte Jane.
»Nein, es war nicht meins«, entgegnete Kurt. »In diesen Dingen war ich immer sehr verantwortungsvoll.«
Weder Kurt noch Esther kamen zu unseren Treffen. Esther, weil sie politische Treffen langweilig fand, Kurt, weil ihm unsere Treffen zu kindisch waren. Aber er ging ständig bei uns ein und aus. Ich lernte allmählich, dass manche Menschen es nicht ertragen können, allein zu sein, nicht einmal für eine Stunde. Für Esther war das kein Problem, sie war immer froh, wenn sie lesen oder im Garten arbeiten konnte. Aber Kurt stahl mir meine kostbaren freien Morgenstunden. Wenn eine zweite Person mit einem ähnlichen Leiden auftauchte, überließ ich sie oft einander, machte die Tür zu dem Zimmer zu, in dem sie saßen, und schrieb im Stehen an der Marmorplatte in der Küche.
Aber musste Kurt nicht arbeiten? – fragen Sie sich vielleicht. Er war ständig für das Bauamt unterwegs, um den Straßenzustand zu überprüfen, Reparaturen zu beaufsichtigen, Exerzierplätze, die Kanalisation oder andere öffentliche Einrichtungen zu kontrollieren. Er war nicht oft in seinem Büro.
»Meine wahre Berufung ist das nicht, die Arbeit im Bauamt«, verkündete er manchmal, während er auf seine unnachahmliche Art Tee trank: Er unterbrach die gequälte Ausschau nach dem Unerreichbaren gerade lange genug, um einen großen Schluck in sich
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