Unter der Haut (German Edition)
Französische die notwendige Klarheit besitze. Niemand hatte ein gutes Wort für mein Buch. Ein Strom von Genossen und Freunden gab mir Ratschläge, wie ich es umschreiben müsse. Ich glaube, der ärgste Feind einer jungen Schriftstellerin sind die liebenden Freunde. Die meisten von ihnen hegen selber die Hoffnung, Schriftsteller zu werden, und die Geschichte, die die arme Aspirantin ihnen anvertraut hat, ist alles andere als das, was sie versuchen würden zu schreiben. Heutzutage ist fast jeder auf seine Art ein Ideologe. Selbstredend missbilligten die Genossen mein Werk, und zwar aus denselben Gründen wie die unpolitische Esther.
Ich habe im Laufe der Zeit mehrere Menschen kennengelernt, die ein perfektes Buch im Kopf hatten, das nicht zu Papier gebracht werden konnte, weil es vor den ungebildeten Menschen und vor unseren infizierenden Gedanken geschützt werden musste.
Einer von ihnen verdient es, hier erwähnt zu werden. Er wurde in Spanien von Jesuiten erzogen und sollte Priester werden. Er wurde Marxist, genauso rein und linientreu, wie er als Seminarist gewesen war. Er heiratete eine Engländerin und überredete sie, mit ihm im Westen Südenglands in einem Wohnwagen in Armut zu leben. Sie hatten vier Kinder. London, so redete er ihr ein, werde ihr wahres Selbst ruinieren. Sie lebten von der Sozialhilfe. Er verbrachte seine Zeit mit Diskussionen in Gesellschaft anderer Revolutionäre in den Pubs und Bars der hübschen Städtchen von Somerset und Devon oder in London mit seinen Schriftstellerkollegen. Unterdessen arbeitete er – im Kopf – an seinem Buch. Er konnte einen mit strengem Blick fixieren und sagen: »Wozu es aufschreiben? Wozu sich auf Kompromisse einlassen?« Er verlor seinen Glauben an den Marxismus, wurde Anarchist und ließ seine Frau und die vier Kinder in ihrem Wohnwagen sitzen, ging nach Paris und wurde Clochard. Dort lernte er in einem Café wieder eine junge englische Frau der Mittelschicht kennen, die sich leicht davon überzeugen ließ, dass ihr Leben Lug und Trug war. Sie lebten gemeinsam ein Bettlerleben, das, wie es scheint, ziemlich harte Arbeit ist. Jeden Morgen trifft man sich mit anderen Clochards, um zu hören, in welchen Kunst- und Handelsausstellungen es umsonst etwas zu essen gibt, welche Wohltätigkeitsvereine kostenlose Mahlzeiten ausgeben und wo man die in Geschäften gestohlenen Waren am besten eintauscht, ohne mit der Polizei in Berührung zu kommen. Er jammerte, wie viel Lebenskraft ihn diese Dinge kosteten, und sein Mädel jammerte mit ihm. Doch gleichzeitig arbeitete er unablässig an seinem unsichtbaren Buch. Dann verkündete das Mädchen, es sei schwanger und wolle das Kind als Clochard großziehen. Das war nur konsequent, schließlich hatte er ihr beigebracht, dass dies die einzige ehrliche Lebensform war. Er aber ließ das alles hinter sich, übersiedelte mit ihr nach England aufs Land und verpflanzte sie in ein verfallenes Häuschen, in dem es bald vier Kinder gab. Sie lebten von der Sozialhilfe. Wir wussten, dass irgendeine Ideologie ihn retten würde. Und so war es. Er stellte fest, dass Frauen und Kinder das sind, was die Integrität vergiftet. Er verließ auch diese Familie und ging als Mitarbeiter der Verwaltung zu einer der unzähligen Organisationen, die als Ratgeber für die Länder der ehemaligen europäischen Weltreiche fungieren. Seine Chefin war eine Schwarze, eine Feministin, die ihre vier Kinder, die von ihren Vätern verlassen worden waren, allein großzog. Er zog zu ihr, er war am Ziel seiner Wünsche angelangt. Manchmal besucht er noch Europa. Und wie kommt er mit seinem Meisterwerk voran? Er fixiert dich mit einem ruhigen, unverwandten Blick, in dem Verachtung für die Korruptheit des literarischen Lebens liegt: »Und wozu sollte ich etwas niederschreiben? Es ist da, wo es ist, sicher aufgehoben.«
Esther versuchte es Kurt auf allerlei taktvolle Weise leicht zu machen, sein Buch zu schreiben.
»Esther besteht darauf, dass ich mein Buch zu Papier bringe«, klagte Kurt.
»Ich würde es halt gern lesen«, sagte Esther.
»Komisch, dass eine feinfühlige Seele wie du so eine einfache Sache nicht begreifen kann.«
Kurt schrieb sein Buch nie und verweigerte jede Diskussion mit uns darüber. Es kam schon vor, dass er die fantastischen und phantasmagorischen Dimensionen seiner Inhalte beschrieb, aber nie auf eine Weise, die andere zu Kommentaren einlud. Doch einen Menschen gab es, dem er alles erzählte. Kurt hatte keinen Führerschein.
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