Unter der Haut (German Edition)
Brote mitzugeben, weil Musa nicht genug zu essen bekomme. Kurt hielt sich lange an einem Butterbrot fest und sah zu, wie Musa die Brote, Aufschnitt, Käse und Obst verschlang. »Und dies hier nehme ich für meine Freunde mit«, sagte Musa zum Schluss und wickelte die Reste ein. »Sie haben zu viel Geld, Baas, und meine Freunde haben Hunger. Und ich werde nicht bloß Ihnen zu Gefallen edel und großmütig sein, Baas. Was ist großmütig? Weiß ich überhaupt, was das heißt? Es ist irgendwas zum Vorteil der Weißen, so viel habe ich mitbekommen.«
»Wenn Sie nicht besser sind als wir, warum sollen wir dann die Schwarzen an unserer Stelle an die Macht bringen?«
»Weil wir das Recht haben, uns in unserem Land wie die Schweine zu verhalten, wenn wir Lust dazu haben.«
»Ich sehe schon, wir werden akzeptieren müssen, dass Sie alle Stadien der Dummheit durchlaufen wollen, anstatt aus unseren Fehlern zu lernen.«
»Wir sollen von Ihnen lernen, edel zu sein? Und großzügig-dumm-un-eigen-nützig?«
»Sie sollen lernen, dass es sich am Ende auszahlt, Güte und Großmut walten zu lassen. Auf lange Sicht.«
»Den Weißen ist es als Schweinen doch nicht schlecht ergangen.«
»Da kann ich Ihnen nicht recht geben. Nicht auf lange Sicht.«
»Und was geht mich die lange Sicht an? Ich will nicht Premierminister werden, bloß damit Sie zufrieden sind, Baas. Ich will mein eigenes Transportunternehmen haben, wo mein Bruder für mich arbeiten kann. Wenn er aus dem Gefängnis kommt. Aber ich habe kein Geld. Sie könnten sich selbstständig machen, wenn Sie wollten, weil Sie genug Geld haben. Sie könnten ein Transportunternehmen aufmachen. Aber Sie sind dümmer als ich.«
»In mancher Hinsicht ja.«
»Sie können nicht einmal einen Reifen wechseln. Sie wissen nicht, wo die Zündkerzen sind. Wenn wir eine Panne hätten und ich wäre nicht dabei, müssten Sie einfach sitzen bleiben, bis jemand vorbeikommt.«
»Ich bin ungeschickt«, gab Kurt in dem Empfinden zu, dass er sich demütigte.
»Was können Sie denn überhaupt, Baas? Wenn wir irgendwo hinfahren, muss ich Ihnen sagen, was kaputt ist. Wie war das bei dem Rohrbruch gestern auf dem Exerzierplatz?«
»Ich verstehe die wahre Bedeutung der intellektuellen Bewegungen unserer Zeit.«
»Wenn man damit was anfangen kann, warum arbeiten Sie dann im Bauamt?«
Dort im Busch, beim Gurren der Tauben, beim Klang der Lärmvögel und Turakos, während Ameisen ihre Kundschafter nach Krumen ausschickten und hektisch über die vier Beine rannten, schwarz und weiß, die freundschaftlich nebeneinander ausgestreckt waren, erzählte Kurt Musa alles über sein Buch, das perfekte Buch, das in seinem Kopf immerfort wuchs wie eine Kumuluswolke an einem heißen Tag.
Von Zeit zu Zeit fragte Musa wohl: »Aber was ist daran so neu?« (Es ging um das Unbewusste. Verdrängung. Inzest. Das Es. Gute und schlechte Brüste. Sogar das kollektive Unbewusste.) »Das wusste ich schon, als ich erst so groß war«, und er hielt die Hand ungefähr eine Handbreit über den Boden, wo die Ameisen Kuchenkrümel abschleppten, die größer waren als sie selber. »Außer dass ich keinen Vater hatte und ihn deshalb nicht umbringen wollte. Man muss ein Weißer sein, um einen Vater zu haben, den man hassen kann. Wenn ich einen Vater hätte, hätte ich mehr zu essen, weil ich dann nicht alles, was ich zu essen habe, an meine Mutter und meine Schwester und meine Freunde weitergeben müsste. Nein, das ist alles nur was für reiche Weiße. Ihr habt das Geld. Ihr habt Väter.«
Und er grinste, während Kurt sich verteidigte.
»Musa ist genau wie ein Freund von mir in der Kommune. Er hieß Wolfgang. Er war ein Skeptiker. Er war derjenige, der unsere Kommune kaputt gemacht hat, weil er darauf bestand, dass er der Vater des Kindes sei. Das war, nachdem wir beschlossen hatten, dass das Baby keinen Vater und keine Mutter haben, sondern uns allen gehören sollte.«
»Und war er der Vater?«
»Das Baby sah ihm schon ähnlich.«
»Hast du Musa von deiner Kommune erzählt?«
»Ich erzähle ihm alles.«
»Was sagt er dazu?«
»Er sagt, er findet uns rückständig, weil in seinem Volk alle Kinder mehr als einen Vater und eine Mutter haben. Es ist ganz selbstverständlich.«
Das war, lange bevor alle von der Großfamilie zu reden begannen, einer Form des Zusammenlebens, die sicher besser ist als alles, was wir in Europa haben.
»Musaemura findet uns sehr primitiv. Er erinnert sich daran, dass er seine Mutter in die Brust
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