Unter der Haut (German Edition)
meinen
Bibelgeschichten für Kinder
war ein Bild vom guten Hirten, aber daher kann ich weder den Staub noch den Geruch von Schafen haben. Die Erinnerung ist bedeutungsschwer, sie kehrt häufig wieder, und ich weiß nie, warum.
Bald verblichen der Geschmack, das Fühlen, die Gerüche Persiens hinter der Unmittelbarkeit der Farben, Gerüche und Geräusche Afrikas, und erst als ich gegen Ende der achtziger Jahre nach Pakistan fuhr, begegnete ich einem Teil von mir, der noch in dieser frühen Welt zu Hause war. Die singende Stimme des Mannes, der zum Gebet rief – wie war noch das Wort für diesen gespenstischsten aller Gesänge, den Gebetsruf? … Der Winkel, in dem heiße Sonne auf eine gekalkte Wand fiel, wo rötlicher Staub das körnige Weiß belebte … Und die Gerüche, die Gerüche, ein Gemisch aus sonnenheißem Staub, Urin, Gewürzen, Benzin, Dung … Und die Geräusche und Stimmen im Basar und die Farben dort, Farbenexplosionen … Und die traurigen Schreie der Esel, die im Islam als nichtswürdig gelten, weil sie nur nach Futter und Sex schreien, obwohl ich glaube, dass sie aus Einsamkeit schreien, ich ziehe Chestertons Lob der Esel vor.
Ein Hahn kräht, ein Esel schreit, Staub an einer gekalkten Wand – schon bin ich in Persien. Dort, wo ich jetzt in London wohne, kräht manchmal nur ein Stück den Hügel hinunter ein Hahn, und schon weiß ich plötzlich kaum noch, wo ich bin.
Weit weg von England, in Persien, waren meine Eltern von ihrer Familie nicht so abgeschnitten wie später in Afrika, denn mindestens zwei Verwandte kamen zu Besuch: Der eine war Harry Lott, ein Cousin meines Vaters. Es ist merkwürdig, dass ich über diesen Mann, von dem mein Vater so oft und über so viele Jahre sprach, nichts zu erzählen weiß, denn ich habe keine Erinnerung an ihn. Onkel Harry Lott war ein guter Freund der Familie, er schickte Geschenke und schrieb uns Briefe, auch noch, als wir in Afrika waren, bis zu seinem Tod. »Ach, wie hat er euch Kinder geliebt, er konnte nicht genug von euch bekommen«, sagt Papa und fügt charakteristischerweise hinzu: »Weiß Gott, warum.« Und wenn ich heute manchmal ein kleines Kind in den Armen eines liebevollen Freundes beobachte, weiß ich, dass dieses Kind für immer etwas davon haben wird, dass es wirkt wie ein kleiner Geheimvorrat an Gutem oder eine dieser Pillen mit Langzeitwirkung, die den ganzen Tag über Stoffe ins Blut abgeben – oder das ganze Leben hindurch. Doch das Kind weiß womöglich gar nichts mehr davon. Ich empfinde es als ziemlich unangenehm, kleine Kinder zu beobachten und zu sehen, was sie formt und beeinflusst, und dann wachsen sie heran, und ich weiß genau, warum sie dies oder das tun, während sie selbst häufig keine Ahnung davon haben. Und als junge Erwachsene verhalten sie sich immer noch nach Mustern, deren Ursprung man kennt. Oder man versucht bei einem Kind, das man längere Zeit nicht gesehen hat, in Augen zu lesen, die gar nicht wissen können, wonach man sucht, man beobachtet, wie ein Freund oder eine Freundin steif oder herzlich in die Arme genommen werden, wie sich eine Hand zärtlich auf den Kopf eines Hundes legt.
Unser zweiter Gast war Tante Betty Cleverly, deren große Liebe im Krieg umgekommen war – wie bei vielen Frauen ihres Alters damals in Europa. Sie war eine Cousine meines Vaters, eine große, unordentliche Frau mit einem Lächeln, bei dem man ihre vorstehenden Zähne sah. Auch sie liebte uns, wie man meinem Bruder und mir viele Jahre lang erzählte, aber ich erinnere mich im Wesentlichen daran, wie ich in der Frühe bei ihr im Bett liege, am Bettrand das allmorgendliche Teetablett, sie in einem langärmeligen, rosafarbenen Wollnachthemd, mit langen, über das Bett ausgebreiteten Haaren, die mich umhüllen wie nach Seife duftende braune Seide, während sie Kekse in starken Tee stippt, mir Bröckchen zum Probieren gibt und lacht, wenn es mich schüttelt, weil es so bitter ist, und dann gibt sie mir einen frischen Keks ohne Tee und ruft: »Sag Mami nichts, ich verderbe dir den Appetit auf das Frühstück.« Danach singt sie
Lead Kindly Light
und
Rock of Ages
mit einer kräftigen, kehligen Stimme und dirigiert dazu mit einem Teelöffel. Alsbald fährt sie weiter nach China, denn sie ist Missionarin, und ihre Briefe an meine Eltern berichten von den Sitten und Gebräuchen der Heiden, die mithilfe des Christentums zur Zivilisation bekehrt werden sollen, und von der London Missionary Society und von dem neuesten Klatsch aus
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