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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Wirklichkeit amüsierst du dich auf Festen prächtig.«
    Kein Hass auf der Welt ist so mörderisch wie der hilflose Zorn eines kleinen Kindes. Auch Gerald Nelligan stellte sich vor seine Mutter hin und schrie: »Nein, ich will nicht, ich werde mich nicht verkleiden, wie komme ich denn dazu?« Er war zwei Jahre älter als ich, ein großer Junge, und doch warf er sich strampelnd zu Boden, das Gesicht weiß vor Wut, und brüllte, wie man es tagtäglich bei Kindern sieht, die nicht ein noch aus wissen … Und später sagen sie dann: »Ich hatte eine wunderbar glückliche Kindheit.« Die Natur weiß, was sie tut, wenn sie es so einrichtet, dass man seine frühe Kindheit vergisst.
    Und nun zur Sache mit der Katze: Ich habe davon in meinem
Katzenbuch
geschrieben, aber ich weiß jetzt, dass ich ihr mehr Bedeutung beimessen muss. »Du hast die schmutzige Katze im Straßengraben gefunden und sie ins Wohnzimmer geschleppt, und sie war größer als du«, sagte meine Mutter, während sie Katze und Kind zugleich darstellte. »Und du hast darauf bestanden, sie mit ins Bett zu nehmen. Wir haben sie in Permanganat gewaschen …« Kaliumpermanganat war eine der Hauptstützen des britischen Empire. »Und die alte Marta kam herbeigestürzt und fragte empört: ›Wieso darf die schmutzige Katze ins Haus?‹« Aber ich durfte die Katze behalten, und wie sehr ich sie liebte, muss ich mir nicht mühsam erschließen. Jahrelang hat mir der Tod einer Katze jedes Mal so schrecklichen Kummer bereitet, dass ich beinahe annehmen musste, ich sei übergeschnappt. Habe ich auch nur halb so viel empfunden, als meine Mutter oder mein Vater starben? Nein. Die alte Katze, die ich vor dem langsamen Sterben in Teherans Straßen gerettet hatte, war meine Freundin, und was wurde aus ihr, als wir aus Persien weggingen? Sie erzählten mir beruhigende Lügen, aber ich glaubte ihnen nicht und weinte unaufhörlich. »Du warst untröstlich«, sagte meine Mutter.
    Ich war fast schon eine alte Frau, als ich einen Schmerz erfuhr, der auf einer Skala von eins bis zehn – wobei zehn eine tiefe, lähmende Depression darstellt, wie ich sie bisher nicht kenne – die Stärke neun erreichte. Auf dieser Skala liegt die Trauer um den Tod einer Katze bei fünf oder vier und die Trauer um die Eltern oder den Bruder bei zwei. Bei dem überwältigenden Kummer um die Katze handelt es sich eindeutig um einen »Ausstrahlungsschmerz«, wie es in der Medizin heißt, bei dem man Schmerzen in einem bestimmten Organ hat, obwohl eigentlich ein anderes befallen ist. Da muss man sich fragen: Warum nur? Und bei Stärke neun wurde ich von einem Kummer zermartert, dessen Ursache ich bis heute nicht kenne.
    Mit Sicherheit stellt sich die Frage, warum unter den vielen Erinnerungen aus dieser frühen Zeit so wenige fröhliche, angenehme, glückliche oder zumindest tröstliche sind. War das hungrige, zornige, kleine Herz einfach nicht zu besänftigen? Kann die Geschichte mit dem Fotografen weiterhelfen? Ich war dreieinhalb. Geblieben ist die Fotografie eines nachdenklichen kleinen Mädchens, das der Familie alle Ehre macht, aber der Zufall will, dass ich mich noch meiner Gefühle in der Situation entsinne. Vorangegangen war eine endlose Auseinandersetzung, ein Gezeter und Gejammer über das Kleid aus braunem Samt, das zu warm war und kratzte. Meine Strümpfe hatten sich schwer anziehen lassen, waren verdreht und warfen Falten und mussten mit einem Gummiband gehalten werden. Meine neuen Schuhe waren unbequem. Mein Haar war gebürstet und immer noch einmal frisiert worden. Ich sollte mich auf einen gepolsterten Hocker setzen, hatte aber Schwierigkeiten, hinaufzusteigen und oben zu bleiben, weil der Stoff so glatt war. Man hatte mich zuerst auf einen sehr großen, schweren geschnitzten Holzstuhl gesetzt, dann jedoch festgestellt, dass er nicht das Richtige für mich war. Man? Meine Mutter und der Fotograf, ein Berufsfotograf, dessen Studio voller japanischer Wandschirme mit Sonnenuntergängen, Seelandschaften und fliegenden Störchen stand, voller Stühle, Tische, Polster und Stofftiere für die Kinderbilder. Doch ich bestand darauf, meinen eigenen Teddy zu halten, der zwar schmutzig war, aber mein Freund. Ich war niedergeschlagen und aufgeregt und fühlte mich schuldig, weil ich so viel Ärger machte: Wie üblich war es so, als hätte meine Mutter allzu schnell und ungeschickt ein großes, unförmiges Paket geschnürt – mich –, und ich passte nicht hinein, und es konnte jederzeit

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