Unter der Haut (German Edition)
vor Augen wie damals, obwohl ich nichts mehr dabei empfinde. Ich wurde als kleines Kind ein Experte in Albträumen und darin, ihnen zu entfliehen, und der Albtraum, hilflos zu sein und »gekitzelt« zu werden, war der schlimmste von allen.
Und doch war mein Vater mein Verbündeter, meine Stütze, mein Trost. Ich frage mich, wie viele Frauen, die sich von ihren Männern körperlich misshandeln lassen, dies beim »Spielen« und »Kitzeln« gelernt haben. Nein, ich gehöre nicht dazu. Ich bin zeitlebens von keinem Mann geschlagen oder misshandelt worden und sage dies, weil man derzeit kaum eine Zeitung in die Hand nehmen kann, ohne von Frauen zu lesen, die von Männern körperlich misshandelt worden sind. Als wäre das die schlimmste Form der Schikane.
Zu diesem Thema habe ich eine abgeleitete Erinnerung: Das große Zimmer, in dem die Rituale vor dem Zubettgehen stattfanden, hatte schwere rote Samtvorhänge. Dass sie schwer waren, weiß ich aus der Erinnerung an Samt, der sich mir auf Haut und Glieder legte, und daran, dass meine kleinen Arme die dicken Falten kaum umfassen konnten. Dass sie rot waren, glaube ich, weil es bei meinen Übungsstücken, die ich mit Anfang zwanzig schrieb, einige Poe-ähnliche Geschichten gibt, in denen rote Samtvorhänge etwas Bedrohliches verbergen. In einer viel zu schwülstigen Erzählung treibt ein Mann in einem Rollstuhl ein kleines Mädchen immer weiter und weiter rückwärts durch ein Zimmer an eine Wand ganz aus rotem Samt, und als sie einen Schritt zu viel macht, ist plötzlich keine Wand mehr da, nur leerer Raum. Ich erinnere mich an jede Menge Kinder»spiele«, auf die sich die Geschichte zurückführen ließe. Sie hieß »Angst und roter Samt«.
Das subjektive sinnliche Erleben eines Kindes: Gerüche, Geräusche, das Grummeln im Bauch der Mutter beim Vorlesen, der aufglühende Tabakrest in Vaters Pfeife, das Blut, das in den Ohren pocht – der Lärm und der Gestank und die Schwere des Lebens, die ein Kind bald ausblendet, um sich davon nicht überwältigen zu lassen, das war bisher mein Thema. Aber all das – und der Kampf ums Überleben – liegt parallel zu all dem anderen, was meine Mutter mir umsichtig und sachkundig vermittelte. Schließlich war sie die Tochter von John William, der ihr beigebracht hatte, wofür gute Eltern Sorge zu tragen haben. Denn meine Mutter war zwar ein allzu hart erzogenes Kind, das sich aus Angst niemals gegen seinen Vater auflehnte – bis sie sich ent- schloss, Krankenschwester zu werden –, aber für ihren Vater stand es trotzdem außer Frage, dass er sie überall mit hinnahm, zu den Feiern am Ende des Burenkrieges, in alle Ausstellungen und zu den Menschenmengen, die bei Staatsbesuchen ausländischer Könige und Königinnen die Straßen säumten, und auf Fahrten mit den neuen Eisenbahnen. Von ihm lernte sie, Darwin und Brunel zu bewundern und auf die Rolle des britischen Mutterlandes, des großen Vorreiters des Fortschritts, stolz zu sein. Sie lernte, in Museen zu gehen und Büchereien zu benutzen.
Und in Teheran sorgte sie dafür, dass ihre Kinder alles mitbekamen, wie es sich gehörte. Ich wurde zwischen den beschriebenen Samtvorhängen hochgehalten, um den Nachthimmel zu bewundern. »Mond, Mond« – niedlich gelispelt, denn wenn meine Mutter davon erzählte, wurde sie zu einem süßen, kleinen Mädchen: »Ss-terne, Ss-terne«, ahmte sie mich nach. Wenn mein Vater, der nicht das geringste schauspielerische Talent besaß, versuchte, das Wort
moon
kindlich auszusprechen, allerdings mit einem französischen
»u«
, weil ich den Mond auch als
lune
kannte, ging es ihm daneben. Wenn es schneite – denn in Teheran fällt viel Schnee, und ich kann mir noch heute jederzeit das dicke, glitzernde Weiß auf Büschen und Mauern vor Augen rufen –, dann baute meine Mutter Schneemänner mit Kohlenaugen und Möhrennasen und Schneekatzen mit grünen Steinen als Augen. Das konnte sie gut, und sie brachte uns bei, wie Nase und Augen, Pfoten und Schnurrhaare auf Französisch heißen. Sie führte uns an sanfte Schneehänge, die mir vorkamen wie die Ausläufer des Mount Everest, setzte uns auf ein Tablett, an dem wir uns festklammerten, und schob uns mit Schwung in Schneewehen, nicht ohne uns zu erklären, dass Schnee Wasser sei, genau wie Eis, Regen oder Hagel. In den Ferien ging es in die Berge, nach Gulahek, was so viel heißt wie Ort der Rosen, und ich sehe die Rosen noch vor mir, rot und weiß, rosa und gelb, nach Vergnügen duftend.
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