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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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ihrer Kirchengemeinde daheim in England.
    Als mein Vater nach beinahe fünf Jahren bei der Imperial Bank of Persia, zunächst als Filialleiter in Kermanschah und später als stellvertretender Direktor in Teheran, seinen ersten Heimaturlaub antreten durfte, ging er davon aus, dass wir hinterher nach Persien zurückkehren würden, und meine Eltern fragten sich voll Angst und Sorge, wo sie ihre Kinder auf die Schule schicken sollten. Es wäre damals üblich gewesen, das ältere Kind, mich, mit meinen fünf Jahren, in England zurückzulassen, aber meine Mutter hatte Kiplings
Der schwarze Jack
gelesen und wusste daher, wie sehr Kinder unter Drangsalierungen und Missachtung leiden können, wenn die Ersatzeltern falsch gewählt werden. Andererseits wollte mein Vater nicht nach Persien zurück. Das gesellschaftliche Leben dort in Teheran langweilte ihn. Die Arbeit in der Bank hatte ihm nie Freude bereitet. Die Perser waren korrupt, und wenn er das sagte, schien niemand ihn ernst zu nehmen.
    Auch England war ihm durch seine Abwesenheit nicht wieder ans Herz gewachsen. Noch tat es das jemals. Bis zu seinem Tod blieb England – England, nicht Großbritannien, jedenfalls war Großbritannien nie Gegenstand seiner Rede – für ihn ein Land, das seine dem Volk gegebenen Versprechen nie eingelöst hat, ein zynisches, korruptes Land. Es war voller selbstgefälliger Kriegsgewinnler und dummer Frauen, die Männern in Zivil, die halb tot aus den Schützengräben gekrochen waren, weiße Federn überreichten und sie dann anspuckten. Und das Volk hatte keine Ahnung, wie es im Grabenkrieg wirklich zugegangen war. Und so würde er sein Leben lang mit harter, zornerfüllter Stimme singen:
    Und wenn sie uns fragen …
    Und sicher werden sie uns fragen …
    Dann werden wir ihnen sagen …
    Aber sie fragten nie, nie mehr, denn der Krieg war zum Tabu, zum Großen Unaussprechlichen geworden. Doch jetzt standen ihm sechs Monate Urlaub in diesem Land bevor. Er musste Zeit mit seinem Bruder Harry zubringen, den er nie gemocht hatte und der ihn herablassend behandelte, denn Harry war der Erfolgreiche, Filialleiter bei der Westminster Bank mit Jacht und flottem Wagen und einem Haus, das mein Vater scheußlich fand, weil es der Inbegriff schicken Vorstadtlebens war. Seiner Vorstellung von sich entsprach das große Steinhaus in Kermanschah mit den schneebedeckten Bergen ringsum, dort hatte er sich wohlgefühlt. Aber das hatte er für immer verloren. Und er mochte Dolly, die Frau seines Bruders, nicht, fand sie dumm und kleinbürgerlich. Er mochte Margaret, die Schwägerin seiner Frau, nicht und fand den Bruder meiner Mutter langweilig. Sechs Monate voller Verwandtenbesuche, die Hölle auf Erden im snobistischen, provinziellen, engstirnigen, beschränkten, kleinen England. Und dann wieder zurück nach Teheran mit seiner snobistischen gesellschaftlichen Betriebsamkeit, den Picknicks, den Gesandtschaftsfesten und den Konzertabenden, auf denen seine Frau spielte, während junge Männer dazu sangen:
The Road to Mandalay
und
Pale Hands I Loved Beside the Shalimar.
»Warum können die Leute nicht friedlich zu Hause sitzen?«, fragte er, wie die Philosophen. Aber meine Mutter lächelte nur in dem ruhigen Bewusstsein, dass sie im Recht war. Dumm war allein, dass er ihre Tochter mit seiner Exzentrizität ansteckte.
    »Nein, ich will nicht, lass mich«, rufe ich weinend, als ich in ein Schäferinnenkostüm gezwängt werde. »Ich will nicht Bo-peep sein. Warum kann ich nicht als Kaninchen gehen wie Harry?« Meine Mutter lacht mich aus, weil ich mich so anstelle, und das Schlimme ist, ich kann spüren, wie mein Gesicht am liebsten mitlachen würde. Ich wechsle die Taktik. »Ich will nicht auf das Fest. Feste sind doof.« »Unsinn. Dir machen Feste immer Spaß. Natürlich willst du Bo-peep sein.« »Nein, will ich nicht. Ich
will
nicht.« »Sei nicht albern. Sag ihr, sie soll nicht so albern sein, Michael.« »Warum muss sie mit, wenn sie keine Lust hat?«, entgegnet Papa unwirsch, gereizt – schwierig. »Ich will auch nicht mit. Diese Feste! Den Kerl, der sie erfunden hat, sollte man aufhängen und vierteilen. Wahrscheinlich war es der Teufel, würde mich nicht wundern.« »Ach,
Michael …
« »Nein, ich sage dir, ich brauche nur an eins davon zu denken, und schon kommt’s mir hoch. Und den Kindern wird es nicht anders ergehen. Etwa nicht? Sie sind furchtbar aufgedreht, sie essen zu viel, und dann haben wir den Salat.« »Ach, Blödsinn, Michael, in

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