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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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aufplatzen und ihr alles kaputt machen. Ich war matt und müde. Diese leichte, traurige Mattheit bildet das Grundgefühl oder den Hintergrund all meiner Erinnerungen.
Es war alles zu viel
, das war es, es war zu hoch oder zu schwer oder zu schwierig oder zu laut oder zu grell, und ich wurde nie richtig mit etwas fertig, obwohl alle es von mir erwarteten.

Kapitel Vier
    Als meine Mutter beschloss, nach England über Moskau, quer durch Russland, heimzureisen, weil sie ihre kleinen Kinder nicht der Hitze des Roten Meeres aussetzen wollte, wusste sie nicht, was sie tat – das hat sie selbst oft gesagt.
»Hätte ich das bloß gewusst!«
Was sie wusste, war, dass wir als erste ausländische Familie diese Reise nach der Revolution mit normalen Verkehrsmitteln unternehmen würden. Es war 1924 . Dass es schwierig werden würde, war klar, aber Schwierigkeiten waren da, um überwunden zu werden. Es wurde eine grauenvolle Reise, wieder und wieder Gegenstand von Erzählungen, das lebhafteste Kapitel unserer Familienchronik. Was man mir erzählte, deckt sich nicht mit meiner Erinnerung, und an den dramatischsten Moment von allen kann ich mich überhaupt nicht entsinnen. An der russischen Grenze stellte sich heraus, dass wir nicht die richtigen Stempel in den Pässen hatten, und meine Mutter musste all ihre Überzeugungskunst aufbieten, um einen verwirrten Grenzbeamten dazu zu bringen, uns ins Land zu lassen. Meine Mutter und mein Vater liebten diese Anekdote sehr: sie, weil sie das Unmögliche geschafft hatte, er, weil das alles seinem Sinn fürs Absurde entsprach. »Lieber Gott, niemand würde es wagen, so etwas auf die Bühne zu bringen«, sagte er, wenn er von der englischen Matrone erzählte, die sich gelassen und von ihrem Recht überzeugt über alles hinweggesetzt hatte, und von dem abgerissenen, halb verhungerten Grenzbeamten, der wahrscheinlich noch nie eine ausländische Familie mit gut angezogenen, wohlgenährten Kindern gesehen hatte.
    Am gefährlichsten war der Anfang der Reise, als sich die Familie für die Fahrt über das Kaspische Meer auf einem Öltanker eingeschifft hatte, einem ehemaligen Truppentransporter, und wir feststellten, dass die Kabine, »nicht gerade das, was man sich idealerweise für eine Kreuzfahrt vorstellt«, von Läusen verseucht war. Und wahrscheinlich auch von den damals überall wütenden Typhusbazillen.
    Die Eltern hielten sich die Nächte hindurch wach, um dafür zu sorgen, dass die schlafenden Kinder im Lichtkreis der Lampen blieben, aber einer meiner Arme fiel in den Schatten und wurde so von Ungeziefer zerbissen, dass er dick und rot anschwoll. Die Kabine wurde normalerweise von Matrosen belegt, und sie war klein. Mir kam sie riesig vor, höhlenhaft und voller Schatten, bedrohlich durch die Angst meiner Eltern, aber vor allem durch den Geruch, einen kalten, stickigen, metallischen Gestank, der für Läuse charakteristisch ist.
    Die Reise vom Kaspischen Meer nach Moskau dauerte mehrere Tage, und die Geschichte ging so: »Im Zug gab es nichts zu essen, und Mami stieg an den Bahnhöfen aus, um etwas von den Bauersfrauen zu kaufen, aber die hatten nur hart gekochte Eier und ein bisschen Brot. Der Samowar auf dem Gang war meistens leer. Und wir hatten Angst, Wasser zu trinken, das nicht abgekocht war. Überall herrschten Typhus und Fleckfieber und andere furchtbare Krankheiten. Und an jedem Bahnhof lungerten Schwärme von Bettlern und obdachlosen Kindern herum, ach, es war schrecklich, und dann wurde Mami an einem Bahnhof zurückgelassen, weil der Zug einfach ohne Warnung losfuhr, und wir dachten, wir würden sie nie wiedersehen. Aber sie holte uns zwei Tage später wieder ein. Sie zwang den Bahnhofsvorsteher dazu, den nächsten Zug anzuhalten, stieg auf und holte uns ein. Das alles ohne ein Wort Russisch, wohlgemerkt!«
    Mir sind andere Dinge im Gedächtnis geblieben, bruchstückhaft, vergleichbar mit einem Film, der ständig reißt und wieder neu ansetzt.
    Die Sitze im Abteil, das wie ein kleines Zimmer wirkte, waren zerschlissen, und sie rochen nach Krankheiten und Schweiß und Mäusen, obwohl meine Mutter alles mit Keatings Insektenpulver bestreute. Mäuse huschten unter den Sitzen herum und liefen uns auf der Suche nach Brotkrumen zwischen die Füße. Die Lampen an der Wand waren kaputt, aber meine Mutter hatte zum Glück an Kerzen gedacht. Nachts wachte ich auf und sah lange, bleiche Flammen gefährlich nahe vor den schwarzen, gesprungenen Fensterscheiben flackern; Spalten ließen im

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