Unter der Haut (German Edition)
Außerdem wurden wir auf Ausflüge mitgenommen und zu den Kinderkostümfesten der Gesandtschaft. All das wurde uns als unser Erbe dargeboten, als unser gutes Recht und, ebenso, als etwas, wofür wir verantwortlich waren.
Das
war der Schnee,
das
waren die Sterne, und hier an dieser Felswand unweit der Straße war vor Tausenden von Jahren Chosrau hoch zu Ross in Stein verewigt worden – und die Jahrtausende wurden, wie sie sagte, zum Gestern, zu unserem selbstverständlichen Erbe. Auf den Gesandtschaftsfesten machte uns ihre Stimme deutlich, wohin wir gehörten, hier waren
nette Leute
, und wir waren
auch
nette Leute. Aber mein Vater mochte Mrs. Nelligan nicht, die unter den Damen der britischen Gesellschaft den Ton angab. Wenn meine Mutter uns mit einem Orchester unterschiedlicher Stimmlagen zu verstehen gab, was wir zu bewundern hätten, so hatte er sein eigenes, anders gestimmtes Orchester, denn er richtete seine Sympathie nicht danach, wie
nett
die Leute waren, und wenn ich dies damals auch noch nicht verstand, so merkte ich sehr wohl, dass er an ihr Kritik übte, weil sie ihre Sympathie nach dem gesellschaftlichen Status verteilte, nicht danach, wie liebenswert jemand war. Wer noch heute von alledem, von dem entsetzlichen Dünkel der damaligen Zeit, schreibt, muss mit der Frage rechnen: »Na und? So war das damals, so war eben die Zeit …« Aber geändert hat sich höchstens das Vokabular des Snobismus, die Struktur ist die gleiche geblieben, die Mechanismen funktionieren noch immer, während die Leute (gedankenlos, wie ich meine) über die alten Zeiten lachen.
Die Wahrheit ist, meine Mutter hat für uns, meinen Bruder und mich, ausgezeichnet gesorgt in jenem Land, wo sie die schönsten Jahre ihres Lebens verbrachte, denn es mag zwar sein, dass der Teil ihrer Natur, der sie zu einer außerordentlich tüchtigen Oberin in einem großen Krankenhaus befähigt hätte, frustriert war, aber es hat nie eine Frau gegeben, die mehr Spaß an Festen und Vergnügungen hatte, die ihre Beliebtheit, ihre Rolle als Gastgeberin, als anständiger Mensch und als Mutter von zwei hübschen, wohlerzogenen, sauberen Kindern mehr genossen hätte als sie.
Viel später, schon in Afrika, hat sie uns, da es für sie so wichtig war, immer wieder erzählt, wie sie sich zu einem Kostümball in der Gesandtschaft als Cockney-Blumenmädchen verkleidet hatte (ob sie wohl wusste, dass sie an diesem Abend ihre eigene arme Mutter Emily verkörperte?). Als sie mit einem jungen Gesandtschaftsangestellten tanzte, hielt der plötzlich mitten auf der Tanzfläche inne und sagte hochrot vor Scham: »Mein Gott, Sie sind doch nicht etwa Maude Tayler? Sie sind so hübsch, dass ich Sie gar nicht erkannt habe.« Woraufhin er sich natürlich davonschlich, nach seinem Fauxpas. Von meiner Mutter hieß es eigentlich zeitlebens, sie sei unscheinbar. Ich glaube, man wollte dafür sorgen, dass sie nicht eitel und flatterhaft wurde wie Emily. Wenn ich mir diese Geschichte (wieder und wieder) anhörte, empfand ich tiefes Mitleid für sie, auch noch, als ich erwachsen war, jedes Mal, wenn sie die Geschichte wieder erzählte – ihr Leben lang –, wobei in ihren Augen echte Tränen blinkten, bei dem Gedanken an den jungen Mann, der sie so hübsch fand.
Einige Erinnerungen haben etwas Wunderbares, Fantastisches. Ein Mann, ein persischer Gärtner, steht über einem der steinernen Wasserläufe, die das Wasser aus dem Schneegebirge unter der Mauer hindurch in den Garten leiten, und er tut so, als wäre er böse, weil ich immer noch einmal in das herrliche Wasser springe und ihn dabei nass spritze. Ich werde von meinen Eltern in die Küche geschickt, um den Dienstboten zu sagen, dass sie das Essen auftragen können; das ist in Teheran, denn ich habe meinen Bruder an der Hand, und ich schaue zu diesen großen, würdevollen Männern hoch, höher und noch höher, und sehe, dass ihre Gesichter unter den Turbanen ernst sind, aber ihre Augen lachen.
Und die wichtigste von allen, die bezauberndste Erinnerung ist zugleich die verschwommenste, und vielleicht habe ich das Ganze auch nur geträumt. Ich habe mein Spielzeugschaf verloren, ein mit echtem Schaffell umwickeltes Stück Holz auf Rädern. Ich weine und wandere davon und sehe eine Schafherde und den Schäfer bei seinen Schafen, einen großen, braunhäutigen Mann in braunen Kleidern, der zu mir herabschaut. Um ihn und die Schafe wirbelt Staub durch die Luft, und ein Sonnenuntergang färbt ihn rot. Das ist alles. In
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