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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Haarschleifen stibitzt hätten. Als sie erzählte, dass ihre Mutter sie nicht in Schutz genommen, sondern sich auf die Seite ihres Mannes und ihrer Söhne gestellt habe, klang es, als sagte sie, es sei schon bedauerlich, dass ihre Mutter keine gute Hausfrau sei. Sie hatte mittlerweile selbst ein Baby und einen Mann, der sie schlug, aber den wollte sie nicht heiraten, weil sie sich einen wünschte, der gut zu ihr sein würde, nach all ihrem Kummer. Sie redete eine Stunde oder zwei Stunden, manchmal drei, den Blick immer ins Leere gerichtet. Dann erhob sie sich rasch, strich sich das billige, geblümte, altmodische Kleid glatt, das ihre burische Großmutter auch getragen haben könnte, sagte: »Vielen Dank, Mrs. Lessing, und danke auch für den Tee«, und verschwand. Damals gab es eine Zeitschrift mit dem Titel
True Love Stories
, in der weniger Liebesgeschichten standen als düstere, ans Pornografische grenzende Melodramen, und wenn die Liebe siegte, dann nur nach Mord, Vergewaltigung, Drohungen, Raub und Bestechung. Ich malte mir aus, wie ich die Geschichte dieser Frau aufschreiben und einschicken würde: »Liebe Mrs. Lessing, vielen Dank für Ihren interessanten kleinen Beitrag, aber wir haben wirklich das Gefühl, dass Sie darin die Grenzen dessen überschreiten, was unsere Leserinnen für möglich halten.«
    Manchmal ließ ich Kurt und Marie allein und hörte draußen vom Korridor, wo ich das Baby fütterte oder
Afrikanische Tragödie
überarbeitete, die beiden unaufhörlich reden, den einen über das geistige und emotionale Dilemma seiner Wiener Kommune, die andere über Inzest im Oranjefreistaat. Keiner hörte auch nur ein Wort des andern. Das konnte nicht gut gehen, denn beide brauchten einen Zuhörer.
    Mein Bruder kehrte aus seinem Krieg heim. Er war schwer hörgeschädigt, auch nach der Operation durch einen weltbekannten Spezialisten. Meine Mutter war schwerhörig. Mein Vater war schwerhörig. Es war ein Haus, in dem sich alle in der Familie anschrien, mitten zwischen den nichtschwerhörigen Gästen meiner Mutter. Harry war langsam, lächelte viel und wirkte, als befände er sich hinter einer Glaswand. Er litt noch unter dem Schock des Krieges, wusste es jedoch nicht oder sprach zumindest erst Jahrzehnte später darüber. Auch ohne seine flotte Marineuniform war er ein gut aussehender, höflicher und zuvorkommender Mann. Meine Mutter hatte nunmehr zwei erwachsene Kinder, die ihre Höflichkeit wie einen Schutzpanzer trugen. Sie halfen ihr zwar mit dem sterbenden Ehemann, indem sie sich an sein Bett setzten und Nachtwachen übernahmen, gaben ihr jedoch nie, was sie brauchte. Harry und ich sprachen kaum miteinander. Zu keiner anderen Zeit unseres Lebens hatten wir weniger gemeinsam. Er mochte Gottfried nicht. Er fuhr auf die Farm hinaus und berichtete nach der Rückkehr, dass das Haus nur noch aus einem Haufen Gras bestehe, das zwischen von Bohrerkäfern zerfressenen Balken und Linoleumfetzen vor sich hin verrotte. Es schien ihn nicht weiter aufzuregen. Bald darauf fegte ein Buschfeuer über den Hügel, und von dem Haus blieb nichts mehr übrig.
    An den meisten Nachmittagen trafen Harry und ich uns an Vaters Krankenbett. Wir drängten Mutter, auszufahren, Besuche zu machen, irgendwohin zu fahren, um sich ein wenig von der Plackerei zu erholen. Manchmal fuhr Harry mit ihr in den Park, und ich blieb da.
    Mein Vater sagte immer wieder: »Warum erlöst mich denn niemand von meinem Elend?« Er murmelte es wütend und umklammerte dabei meine Hand oder streichelte mit bitterer Miene heftig das Baby. Er sagte es auch, wenn Harry da war. Mein Bruder war, wie man heute sagen würde, ein Mann, der seine Gefühle verdrängte – jedenfalls war er das damals. Als wir uns viele Jahre später, als wir beide schon ziemlich alt waren, besser kennenlernten, war er ganz anders. Wenn mein Vater von Harry verlangte, dass er ihm eine tödliche Dosis dieses oder jenes Medikaments verabreichte, fragte der mich und meine Mutter höflich: »Was meint ihr? Ist das wirklich sein Wunsch?« Diese Frage, was er oder sie sich wünsche, wünschen würde, sich wünschen könnte, sich gewünscht hätte, taucht immer zu einem bestimmten Zeitpunkt auf, wenn der Tod nicht mehr fern ist. Man könnte diese Frage als den Gipfel der Heuchelei betrachten oder aber vielleicht als bewundernswerten Versuch, die Trauer durch absichtlich herbeigeführte Banalität zu betäuben. Meine Mutter war verzweifelt und gleichzeitig außer sich vor Wut. Sie musste

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