Unter der Haut (German Edition)
oft zu dem Baby ans Bett und streichelte zärtlich die munter strampelnden Arme und Beine. Dieser sonst so ernste und wild entschlossene, kleine dunkelhäutige Mann mit den glühenden schwarzen Augen konnte nicht anders, er musste lachen und grinsen, wenn er mit dem Baby spielte. Die Gruppe der griechischen Kommunisten kam oft eigens in die Stadt, um den Kleinen ein, zwei Stunden zu besuchen. »Er bewahrt uns davor, verrückt zu werden, könnt ihr das verstehen?«, sagte Athen gelegentlich. Diese Menschen gingen mit absoluter Selbstverständlichkeit davon aus, dass sie binnen ein oder zwei Jahren tot sein würden. Der Krieg in Europa und Asien mochte zu Ende sein, aber sie warteten darauf, endlich ihren Krieg gegen diejenigen zu führen, die sie immer als »die Faschistenschweine« bezeichneten.
Simon Pines’ Beziehung zu dem Kind war eher erzieherisch. Er stellte sich ans Bettchen, an den Kinderwagen oder an das große Bett, auf dem das Kind lag, betrachtete es – wie Athen – mit den Augen eines Mannes, der dort groß geworden war, wo Kinder ums nackte Überleben kämpfen mussten, und hielt mir oder Gottfried Vorträge darüber, wie wir ihn auf diesen Kampf vorzubereiten hätten. Simon schaffte es nicht bis Palästina, um beim Aufbau des Staates Israel zu helfen. Dieser breite, kräftige, untersetzte Mann, der damit geprahlt hatte, dass er noch nie krank gewesen sei, bekam Malaria und erschrak dermaßen, dass er sich, wie ein Schwarzer, der von einem Schamanen verflucht worden ist, mit dem Gesicht zur Wand drehte und starb. Wir konnten es nicht fassen. Manchmal kann ich es immer noch nicht fassen.
Ich kämpfte verbissen um Zeit zum Schreiben. Nicht gegen das Kind, das freundlich und pflegeleicht war, sondern gegen die Freunde des Babys und gegen Kurt und gegen andere, die mein offenes Ohr brauchten. Ich war noch nicht auf die Idee gekommen, dass Menschen, die wissen, was es heißt, unglücklich zu sein, ihresgleichen anziehen. Jahre später klärte mich eine Zeile in John Osbornes
Hier ruht George Dillon
auf:
Sie ist ein seelischer Abfalleimer
. Seitdem habe ich sicher immer noch mehr zugehört, als es nur recht und billig gewesen wäre, aber ich lasse mich auch nicht täuschen: Ich weiß, das arme Opfer, das allem Anschein nach so von deinem Verständnis abhängt, wird sich – wenn du dich verweigerst – einfach jemand anders suchen.
Nur wenige Menschen – vielleicht einer von fünfzig? – respektieren die Privatsphäre von Frauen. Wenn sie erklären: »Ich verbringe meinen Vormittag mit Schreiben«, wird das kaum jemanden daran hindern, leise anzuklopfen und einen Moment später mit schuldbewusstem, verlegen lächelndem Gesicht zur Tür hereinzuschauen: »Ich wollte nur auf einen
Sprung
vorbeikommen.« Das Problem ist, dass etwas in derjenigen, die gestört wird, insgeheim froh darüber ist, wenn sie gestört wird, vor allem wenn sie Schriftstellerin ist. Die junge Frau, die am häufigsten zu mir kam, hatte ein zwanghaftes Mitteilungsbedürfnis. Hatte sie einmal angefangen, redete Marie ohne Pause, und zwar bestimmt nicht mit mir, sondern mit einem für mich und vielleicht auch für sie unsichtbaren Zuhörer, mit stur ins Leere gerichtetem Blick. Sie war eine zierliche, mädchenhafte Frau, deren dünne, weiße Arme und Beine mit Sommersprossen übersät waren. Ihr Haar war strähnig, fein und dunkel. Ihre Augen sahen in dem kleinen, blassen, sommersprossigen Gesicht aus wie Backpflaumen. Sie arbeitete in einer der Fabriken, die bei Kriegsbeginn entstanden waren: Die verarbeitende Industrie profitierte während des Krieges von den Ein- und Ausfuhrbeschränkungen, wie auch später von den Sanktionen, die auf Smiths einseitige Unabhängigkeitserklärung folgten. Sie hatte einen langen Arbeitstag und wurde schlecht bezahlt. Sie war von ihrer Familie verstoßen worden oder war selbst davongelaufen, weil sie von Kind auf von ihrem Vater und ihren Brüdern vergewaltigt worden war. Ich hatte noch nie jemanden wie sie kennengelernt, obwohl jeder wusste, dass Inzest in den ländlichen Regionen des südlichen Afrika unter den armen Burenfamilien durchaus verbreitet war. Ich hörte ihr mit jener Erregung zu, die der Unwahrscheinlichkeit entspringt, dem heftigen Aufeinanderprallen ganz unterschiedlicher Substanzen – sie redete von Dingen, die nach Ansicht der meisten Menschen sicherlich traumatische Erfahrungen waren, als ob sie davon berichtete, dass ihr Vater sie geschlagen habe und ihre Brüder ihr die
Weitere Kostenlose Bücher