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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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über sein Verlangen nachdenken, weil er Dinge sagte wie: »Für einen Hund würdest du es tun.« Aber sie wusste sehr genau, dass die Sache viel komplizierter war, als es den Anschein hatte. Wenn Sterbende sagen: »Es ist mir alles zu viel, gib mir eine Überdosis«, meinen sie manchmal genau, was sie sagen, und ein anderes Mal wollen sie nur mitteilen: »Es ist unerträglich, du kannst gar nicht verstehen, wie sehr ich leide« – und verlangen eigentlich bloß, dass sich diese schrecklich gesunden, lebendigen Leute am Bett wirklich nach Kräften bemühen, an dem, was sie durchmachen, teilzuhaben. Wir sahen unseren Vater vielleicht als eine Parodie oder eine Karikatur seiner selbst, als einen kranken und quengeligen alten Mann anstelle des dynamischen Vaters, an den wir uns erinnerten, aber auch der war die ganze Zeit da, ohne sich verändert zu haben, und er identifizierte sich nicht mit dem verfallenden Körper. Als er sagte: »Warum erlöst ihr mich nicht von meinem Elend?«, sagte er in Wirklichkeit: »Warum bin ich mit diesem Körper belastet – das bin ich doch gar nicht?« Jedenfalls glaube ich das. Und wir mussten qualvolle Gespräche zwischen ihm und meiner Mutter mit anhören. Sie hatte eine schlichte, um nicht zu sagen praktische Einstellung zum Leben nach dem Tod. »Verstehst du? Wir sehen uns dort droben wieder, es wird wunderschön sein, und wir knüpfen einfach wieder an unser Leben hier an.« »Ich will aber nicht wieder an dies hier anknüpfen«, erwiderte er darauf vielleicht. »Wozu sollte ich an dies hier anknüpfen wollen? Soll ich etwa wieder
all dies
am Hals haben?« Womit er seine Krankheit, vielmehr seine vielen Krankheiten meinte, sein geschwollenes, schwammiges, weißes Bein, das er voll Abscheu betrachtete, seinen aufgedunsenen, weißen Bauch. »Nein, nein, Michael, sieh doch. Wir werden neue Körper haben, so steht es in der Bibel.«
    »Na, mir kommt das ziemlich komisch vor.«
    Wir wünschten uns, dass er bald sterben würde, weil ihn die Krankheit so furchtbar anstrengte und weil wir meinten, es müsste für ihn schrecklich sein, in diesem Zustand auszuharren. In Wirklichkeit erschütterte uns jedoch die Vorstellung, dass er wusste, in welchem Zustand er sich befand.
    Eines Morgens erschien ein Mann an der Tür, als ich gerade das Kind badete, um mir zu sagen, dass mein Vater im Sterben liege, und wenn ich ihn noch einmal sehen wolle, müsse ich sofort ins Krankenhaus kommen. Ich bin nicht hingegangen. Einerseits glaubte ich es nicht, weil ich seit Jahren von meiner Mutter oder ihrem nimmermüden Hang zum Drama kategorisch an ein Sterbebett zitiert worden war. Andererseits wollte ich nicht dabei sein, wenn er starb. Ich setzte mich wieder neben die Wanne und fuhr fort, das Kind zu baden. Ich war aufgewühlt, mir war nach Brüllen und Schreien zumute. Ich hätte am liebsten irgendwen oder irgendwas umgebracht, aber wen? Ich hätte mir mit beiden Händen die Haare ausreißen oder mir mit meinen Fingernägeln die Wangen zerkratzen mögen. Auf der Station des Krankenhauses von Salisbury hätten sie ein solches Verhalten wohl kaum geduldet. Ich badete lieber weiter das Kind.
    Mein Vater hatte sein Leben lang Angst davor gehabt, lebendig begraben zu werden, und hatte meiner Mutter das Versprechen abgenommen, dass sie ihm beide Pulsadern aufschneiden würde, damit er nicht tief unter der Erde wieder aufwachen konnte. Als ich ihn sah, hatte er tatsächlich blasse Schnittwunden an den dünnen, blutleeren Handgelenken. Er machte überhaupt nicht den Anschein, als »schliefe« oder »träumte« er, oder was der üblichen Lügen mehr sind. Er war schlicht und einfach nicht da. Er war fort. Ich habe mittlerweile ziemlich viele Leute sterben und anschließend als Tote gesehen, und alle haben sich davongemacht.
    Wir beerdigten ihn. Ich saß mit meiner Mutter im Auto, als wir zum Friedhof hinausfuhren, und wir unterhielten uns über Versicherungen und Testamente. Ich fand das Ganze ziemlich entsetzlich und versuchte, meine Mutter in die Arme zu schließen, und ich sagte: »Arme Mutter.« Sie schüttelte mich mit einem abweisenden Blick ab. Ich hatte Gefühle geheuchelt, und sie wies die Heuchelei von sich. Wir redeten weiter über die Versicherungspolicen wie in einer Szene bei Balzac oder Samuel Butler.
    Ich war so wütend, so unendlich wütend. Ich konnte nicht begreifen, was diese Trauerfeier mit dem Tod meines Vaters zu tun hatte oder mit meinem Vater. Ich wusste, was er davon gehalten hätte.

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