Unter der Haut (German Edition)
Als ich den Totenschein sah, hätte ich am liebsten die Eintragung der Todesursache durchgestrichen – Herzversagen, glaube ich – und stattdessen Erster Weltkrieg hingeschrieben. Viele Jahrzehnte später sage ich mir nun, Zorn dieser Art ist ein Zeichen von Unreife, und es wird Zeit, dass du die hinter dir lässt. Aber bei jeder Musik aus dem Ersten Weltkrieg, bei jeder Filmszene oder beim Anblick dieser alten Fotografien oder Aufnahmen von den Schützengräben, die wir wieder und wieder zu sehen bekommen, meldet sich der Zorn aufs Neue, frisch wie eh und je.
Aber wessen Zorn ist es?
Meine Mutter war einsam. Durch den Umzug in die Stadt, »endlich weg von der Farm«, hatte sie geglaubt, dass der Teil von ihr, der Gesellschaft haben und sich amüsieren wollte, hier mehr Gelegenheit haben würde, sich zu entfalten. Das alles hatte zwanzig Jahre lang, auf der Farm, auf Eis gelegen. Die Pflege ihres Mannes hatte ihr wenig Zeit für soziale Kontakte gelassen. Sie wusste, dass unsere Wohnung Abend für Abend voller Leute war. Sie sagte gelegentlich sehnsüchtig, sie habe gehört, wir hätten interessante Bekannte. In ihren Tagträumen vergaß sie gern, dass es sich bei ihnen höchstwahrscheinlich um Rote, Kommunisten und Kaffernfreunde handelte. Ich lebte in ständiger Angst davor, dass sie sie kennenlernen könnte. Mehr als einmal kam sie, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude auf, als sie ins Zimmer trat und so viele Gesichter sah. Sie setzte sich dazu und trank eine Tasse Tee, und langsam tauchte in ihrem Blick der Ausdruck von Enttäuschung wieder auf, den ich schon kannte. Ich fragte mich immer:
Wen
könnte ich ihr bloß vorstellen, der ihr gefallen oder, besser, den sie akzeptieren würde? Esther vielleicht, die war immerhin eine Engländerin der Mittelschicht. Aber Esther war mit Kurt verheiratet. Dann gab es die Loveridges, Engländer der Mittelschicht, beide Lehrer. Aber wir konnten die Loveridges nicht allein einladen: So förmlich ging es bei uns nicht zu. Außerdem konnten jederzeit alle möglichen Leute hereinschneien. Mal angenommen, Charles Mzingele käme vorbei? Er war mit Sicherheit der interessanteste Mensch, den wir kannten.
Nach gar nicht langer Zeit erschien meine Mutter eines Morgens bei uns, um zu verkünden, dass ein Unglück geschehen sei. Sie war kreidebleich, sie war außer sich. Sie sagte, dass mein Bruder heiraten wolle. »Aber was ist daran schlimm? Was ist los? Möchtest du eine Tasse Tee?«
»Sie passt ganz und gar nicht zu ihm. Es ist furchtbar.«
Dass meine Mutter sagte, das Mädchen passe nicht zu ihm, hätte mich hellhörig machen müssen, aber wie üblich verstrickten wir uns in ein Gewirr von Missverständnissen. Das Mädchen hieß Monica Allan, und sie war schon seit einigen Monaten Harrys feste Freundin, mit der er sich überall sehen ließ. Sie war schön. Sie war nett. Sie war klug. Sie hatte einen reichen Vater. Sie war auch die beste Schwimmerin in ganz Mashonaland, also doch bestimmt eine gute Partie?
Ich erinnere mich noch an mein Unbehagen: Ich befürchtete allen Ernstes, dass das endlos lange Dahinsiechen meines Vaters meine Mutter um den Verstand gebracht hatte. Ich konnte wohl einfach nicht begreifen, worum es ging. Mein Problem war, dass ich mich nun schon seit einigen Jahren mit Leuten aller Gesellschaftsschichten umgab, ja sogar mit Leuten aller Hautfarben – wenn auch in beschränkter Anzahl –, die aus vielen verschiedenen Teilen der Welt stammten. Die meisten von uns glaubten, dass es bald keine Klassen, keine Rassenvorurteile und keine anderen diskreditierenden Emotionen mehr geben würde. Ich hatte mich in ein Wolkenkuckucksheim der schönen Gedanken verloren und schlicht vergessen, wie die Welt wirklich war. Was
konnte
an Monica bloß auszusetzen sein? Nun, sie stammte nicht aus der englischen Mittelschicht. Ihr Vater war einer der erfolgreichsten Farmer des Landes, seine Farm wurde von Leuten aus dem ganzen südlichen Afrika besichtigt – aber er stammte nicht aus der Mittelschicht. Und er war Schotte.
Meine Mutter kam allen Ernstes mit ausgestreckten Händen auf mich zu, vor Kummer völlig außer sich, und flehte mich an: »Du musst etwas tun. Du musst es verhindern. Er hört nicht auf mich, er hört nie auf mich, niemand hört je auf mich.«
Sie war wahrscheinlich ehrlich entsetzt, aber ich war es auch. Es musste Jahre her sein, dass ich sie anders als mit kühler Höflichkeit behandelt hatte, aber plötzlich schrie ich sie an: »Lass sie in
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