Unter der Haut (German Edition)
Ruhe. Misch dich nicht ein. Mach ihnen das nicht kaputt.« Sie taumelte zurück und stammelte: »Aber was meinst du … verstehst du nicht …?« »Lass sie in Ruhe«, befahl ich und tat damit genau das Richtige, nur auf die falsche Weise. Mit dieser Szene erwies sich, dass sich die Psychotherapeuten, die später sagten, ich hätte mich meiner Mutter gegenüber »behaupten« müssen, im Irrtum befanden. Sie drehte sich um und stolperte blind aus dem Haus, ohne darauf zu achten, wohin sie ging. Sie stand unter dem Baum im Garten – wir waren schon wieder umgezogen – und sandte lange, verwirrte, verletzte, aber vor allem verständnislose Blicke in meine Richtung und ging dann zu ihrem Auto, in dem sie lange vollkommen kraftlos sitzen blieb.
Als ich endlich begriff, worum es ihr ging, war es mir unerträglich, fast schlimmer als die Art und Weise, wie mein Vater gestorben war. Ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass sie immer noch davon träumte, zu dem zurückzukehren, was sie gewesen war, bevor sie auf die Farm kam, wo das Leben für sie so zermürbend gewesen war. Sie hatten die Farm »Kermanschah« genannt, in Erinnerung an die schönsten Zeiten ihres Lebens. Der hässliche, kleine Bungalow, in dem sie und mein Vater sich so gar nicht wohlfühlten und der alles war, was sie sich nach dem Verkauf der Farm noch hatten leisten können, bekam ebenfalls den Namen »Kermanschah«. Aber diese »Schatten-Kermanschahs« waren nur Behelfsunterkünfte, vorübergehende Unterbringungsorte, und danach würde das wahre Leben wieder beginnen. Ich, ihre Tochter, die ihr ach so viel Kummer bereitete, hatte diesen kalten Preußen geheiratet, aber ihr Sohn würde ein nettes, englisches Mädchen heiraten, und dann … Vielleicht hatte er ja im Krankenhaus ein nettes Mädchen kennengelernt, genau wie sie im Royal Free Hospital, und sie, Emily Maude McVeagh, würde sich schon bald wiederfinden in … (Sie war
Emily
Maude getauft worden, hatte Emily aber fallen lassen.) Dabei wusste sie, muss sie gewusst haben, dass ihr Sohn einen Traum hatte, dass er einzig und allein nur davon träumte, dorthin zurückzukehren, wohin er gehörte, in den Busch, ins
veld
, wo er in alten Kakishorts und Kakihemd im Freien herumlaufen konnte, denn ihm war Erfolg ebenso unwichtig wie ihrem verstorbenen Mann.
Das war eine grausame Szene, auch wenn ich damals nicht richtig begriff, wie grausam sie war. Immerhin habe ich durchgesetzt, dass Harry und Monica ohne weitere Szenen und Vorwürfe heiraten konnten. Nicht, dass er sie nicht auf jeden Fall geheiratet hätte, denn seine Art, mit Widerstand umzugehen, bestand immer noch – wie schon früher – in der schlichten Weigerung, Widerstand überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Es wurde Hochzeit gefeiert, und alle außer meiner Mutter waren glücklich und zufrieden. Erfüllt von einer Trauer, die das alte Sprichwort bestätigt, sagte sie zu mir: »Ein Sohn ist dein Sohn, bis er eine Frau findet.«
»Aber«, fragte ich fassungslos, »was hast du denn erwartet?«
Fortan kamen zu den unwahrscheinlichen Gegensätzen meines Lebens auch noch sonntägliche Nachmittagsbesuche bei den Allans hinzu, mit dem Baby. Wir fuhren oft mit einem vollen Auto hinaus, aber nie mit Leuten, über die Mamie Allan, Monicas Mutter, sich aufgeregt hätte; Kurt beispielsweise hätte sie nicht ausgehalten. Ich fand es schwierig, mit ihr auszukommen. Sie hielt nicht besonders viel von mir und von Gottfried … Der Krieg brachte zahllose Menschen zusammen, die sich sonst nie begegnet wären, aber vielleicht stellten diese Nachmittage auf der Farm der Allans so etwas wie den Inbegriff der Unwahrscheinlichkeit dar. Ich blicke zurück und sehe Gottfried, untadelig gekleidet, seinen glatten, glänzenden schwarzen Haarschopf, ich sehe sein Gesicht, das förmlich nach einem Monokel schreit, wie er dasitzt, mit einer Bernsteinzigarettenspitze raucht und Mamie Allans forsch missbilligende Fragen beantwortet, während sie ihm eine Tasse Tee einschenkt oder Scones reicht, die fein säuberlich auf einem kleinen Zierdeckchen liegen, und ihm in ihrem maßgeschneiderten kleinen Nachmittagskleid aufrecht gegenübersitzt, mit dauergewelltem Haar, durch das sie wie ein frisch gebürsteter Terrier aussieht.
»Und Sie sind in Deutschland aufgewachsen?«
»Aber so verstehen Sie doch, Mrs. Allan, ich bin Deutscher.«
»Und warum haben Sie dann nicht für Ihr Land gekämpft?«
»Zum einen waren wir nicht alle für Hitler.«
»Sie haben also
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