Unter der Haut (German Edition)
möglich – und ich bin mir bewusst, dass ich mich mit dieser verrückten Hypothese der Lächerlichkeit preisgebe –, dass wir uns mit Musik vergiften? Unsereins, meine Zeitgenossen, wir haben seit unserer Jugend immer Tanzmusik gehört, Tag und Nacht, und sie war stets romantisch oder sentimental. Sie war voller Sehnsucht, voll Verlangen, voller Wünsche und Bedürfnisse – und Erwartungen, denn irgendwo, irgendwann war ein Versprechen gegeben worden.
Some day I’ll find you
… Wir lebten in einer Welt voller Träume. Aber seitdem hat die Musik sich verändert. Ihre Rhythmen sind nicht mehr schwebend, wiegend und langsam, sie hämmern und stampfen und peitschen, und das alles ist ist so laut, dass man es mit allen Nervenfasern hören muss. Einmal in New York war ich gerade dabei, eine Party zu verlassen, weil die Musik so laut war, dass sich mir buchstäblich der Magen umdrehte, als eine schwarze Frau, die gerade zur Tür hereinkam, fragte: »Was haben Sie denn, Schätzchen?« Ich sagte es ihr, und sie entgegnete: »Aber diese Musik hört man nicht mit den Ohren, man hört sie mit dem ganzen Körper, man hört sie mit jeder Nervenfaser des Körpers.« Welchen Nervenfasern? Meine Frage lautet demzufolge: Kann ein Grund dafür, dass jemand losgeht, um einen anderen Menschen zu ermorden oder zu quälen oder zum Krüppel zu schlagen, der sein, dass er oder sie durch Musik, die einen verrückt macht, zu dem Verbrechen aufgeputscht worden ist? Schamanen setzen Musik seit Tausenden von Jahren ein, um eine besondere Stimmung zu schaffen, junge Männer werden durch packende Märsche auf das Töten vorbereitet, Kirchen setzen inspirierende Musik ein, um ihre Gemeinden zusammenzuhalten, und es ist bekannt, dass echte spirituelle Meister mit Musik arbeiten, aber das ist eine so heikle Angelegenheit, dass sie Experten überlassen wird, die ihre Musik behutsam und nur bei besonderen Anlässen einsetzen. Wir aber lassen uns von jeglicher Art von Musik überschwemmen, wir baden uns in Musik, speisen sie häufig mit eigens zu diesem Zweck entworfenen Geräten direkt ins Gehirn ein – und fragen uns nie, welche Auswirkungen das womöglich hat. Nun, ich für meinen Teil – und ich weiß, dass es noch andere gibt – denke, dass es Zeit wird, sich dieser Frage zu stellen.
Kapitel Neunzehn
Ich vermute, diesmal zogen wir um, weil wir ein ganzes Haus fanden, ein kleines zwar, aber mit dem üblichen Grundriss: zwei Zimmer und eine vordere und eine hintere Veranda. Außerdem hatte es einen Garten, in dem ein großer Jakarandabaum stand und wo sich das Baby aufhalten konnte. Hinter dem Haus, im
kia
für die Boys, lebte Book, denn wir hatten wieder einen Diener. Keinen zu haben bedeutete mehr Ärger, als die Sache wert war. Es hatte sich herumgesprochen, dass wir keinen Boy hatten – und sie kamen in Scharen, um zu betteln und zu flehen: »Bitte, Baas, bitte, Missus …«
Salisbury hatte damals 10 000 weiße Einwohner; man nahm an, dass etwa 100 000 Schwarze in der Stadt lebten; und es schien, als ob keiner von diesen hunderttausend ein anderes Ziel hätte, als in einem weißen Haus zu arbeiten. Zumindest bedeutete eine solche Stelle, dass man sich legal in der Stadt aufhalten durfte und die Vergnügungen genießen konnte, dass man zu essen bekam, einen Schlafplatz hatte und ein bisschen Geld. Book war ein intelligenter, junger Mann, der das Haus morgens um neun Uhr sauber hatte und sofort kochen lernte. Wir beschlossen, dass diese Arbeit eine Verschwendung seiner natürlichen Intelligenz war, und boten ihm an, die Kosten einer Abendschule für ihn zu übernehmen. Wir stellten uns vor, dass er in zwei, drei Jahren als Buchhalter oder Büroangestellter ein Vielfaches von dem verdienen könnte, was er bei uns bekam. Aber er widerstand allen Versuchen, ihn dazu zu bewegen, mehr aus sich zu machen. Er war zweiundzwanzig. Die Stelle bei uns war in seinen Augen das ganz große Glück. Warum sollte er abends die Schulbank drücken? Er amüsierte sich lieber, denn er war ein fabelhafter Tänzer. Er hatte eine schicke Freundin. Und dann kamen diese ernsten Weißen mit ihren missionarhaften Ideen. Was er gern wollte, war, dass wir ihm mehr Geld gaben. Wir bezahlten ihm bereits erheblich mehr, als allgemein üblich war, und nahmen ihm das Versprechen ab, den anderen Dienstboten nichts davon zu sagen. Natürlich erzählte er es trotzdem. Wieder wurden wir von wütenden Hausfrauen und -herren attackiert, die sich beschwerten, dass
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