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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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zusammenlebten.
    Wenn ich wieder heimkam, las Gottfried meist noch. Er blickte mit funkelnden Brillengläsern zu mir auf, was andere so einschüchterte, und fragte: »Wo bist du gewesen?« »Ich war nur spazieren.«
    Oder er war schon zu Bett gegangen und sah mir im Liegen zu, wie ich mich auszog und meine Kleider irgendwo hinwarf. Wenn ich seinen Gesichtsausdruck sah, sammelte ich die Sachen schnell auf und legte sie dorthin, wo er sie nicht sehen konnte.
    Einmal, als er zum Abendessen ausgegangen war, brauchte ich Bewegung, also packte ich den Kleinen in den Kinderwagen und ging, als es bereits dunkel war, mit ihm in den Straßen spazieren. Als ich nach Hause kam, erhob Gottfried sich von der Bettkante, auf der er zusammengekrümmt mit bleichem Gesicht gesessen hatte. »Wo warst du?« »Ich war nur spazieren.« »Aber du kannst zu dieser nachtschlafenden Zeit doch nicht mit einem Baby spazieren gehen.« »Warum denn nicht, es ist sehr warm. Und er schläft fest.« »So etwas geht einfach nicht«, sagte Gottfried. Ein Echo meiner Mutter mit ihrem »Aber das tut man doch nicht«.
    Unsere Streitgespräche waren durchsetzt von
So etwas geht einfach nicht
und
Warum denn nicht?
, und hinterher starrten wir einander frustriert, bis ins Innerste blockiert an. Ich fragte mich oft, warum er sich durch mich so verletzt fühlte, seine eigensinnige und impulsive Mutter hätte doch bestimmt ein Baby zu einem Abendessen mitgenommen, wenn es ihr gefallen hätte. Das heißt, wenn die Kinderfrau es erlaubt hätte.
    Wir können wirklich nicht viel an dem ändern, was uns angeboren ist.
    »Aber warum nicht?«, rief ich, worauf er entgegnete: »Wenn du das nicht weißt, dann kann ich dir leider auch nicht helfen«, und sich kalt und böse abwandte. »Gut, dann lass uns drüber reden. Lass uns versuchen, es zu verstehen. Um Gottes willen, Gottfried, es kann sein, dass wir noch Jahre miteinander – Hunderte von Jahren …« »Nein, ich glaube nicht, dass es noch so lange dauern wird.« »Na
schön
 – aber was haben wir davon, wenn wir uns bloß wütend anstarren? Und wenn’s nur sechs Monate sind.« »Mir war nicht bewusst, dass ich dich wütend anstarre.«
    Als unsere Beziehung ihren Tiefpunkt erreicht hatte, versuchten wir, unsere Gegensätze gerade dort zu überbrücken, wo sie am stärksten waren, das heißt bei seiner Abneigung gegen die Literatur und meiner Liebe zu ihr. Wir fanden ein Buch, auf das wir uns einigen konnten, Robert de Borons Gralsroman. Er las ein Stück vor. Ich las ein Stück vor. Wir saßen in unserem stickigen Zimmer, das Kind schlief wahrscheinlich nicht, sondern spielte für sich auf dem Fußboden, und wir lasen einander vor. Wenn Leute vorbeikamen, lachten sie, weil sie uns wunderlich fanden und sich darüber amüsierten, dass wir uns – Gottfried mit seinem deutschen Akzent und ich mit meinem rhodesischen Akzent – in die Sphären höfischer Liebe vorwagten. Sonntags fuhren wir zum Picknick in ein
vlei
unweit von Salisbury, das jetzt zugebaut ist, wo aber damals Bäume an einem Wasserlauf standen, auf denen Hornvögel wippten und sich um ihre Nester kabbelten. Dort lasen wir uns und allen anderen, die dabei waren, vor, Hans Sen, Gottfrieds Freundin, den Royal-Air-Force-Leuten, Besuchern aus Südafrika. Alle fanden es recht amüsant, und uns half es, nicht durchzudrehen.
    Die Straßen, durch die ich wochenlang, monatelang Abend für Abend lief, ohne je einen Gedanken an etwaige Gefahren zu verschwenden: Heute wäre es für eine junge Frau, ob schwarz oder weiß, unmöglich, dort so unbeschwert spazieren zu gehen. Heutzutage ist jedes Haus mit Sicherheitsschlössern ausgerüstet und von Hunden bewacht, die Fenster sind vergittert, die Veranden in kleine Käfige umgewandelt. In diesen kleinen Festungen sehen schwarze und weiße Familien fern, dieselben Programme in jedem Haus. Die auf der Straße geparkten Autos sind abgeschlossen und mit Alarmanlagen gesichert. In den alten Zeiten war nichts abgeschlossen, weder die Häuser noch die Autos. Eine junge weiße Frau konnte ohne Weiteres bis weit nach Mitternacht herumlaufen. Und als ich endlich in London war, lief ich auch dort nachts allein meilenweit durch die Straßen, und es kam mir nie in den Sinn, Angst zu haben. Ich glaube nicht, dass diese Entwicklung in unseren Städten – und auch auf dem Land – viel mit der politischen Färbung oder der Hautfarbe der Regierungen zu tun hat. Da geht etwas anderes vor.
    Was?
    Was ist es?
    Ist es

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