Unter der Haut (German Edition)
und jedem Einfühlungsvermögen abschneidet – und zwar schon durch die einfache Tatsache, dass sie Macht haben oder einen verantwortlichen Posten bekleiden. Wie wäre es sonst zu erklären? Dabei sollten doch diejenigen, die über Macht verfügen, die Situation ihrer Bürger kennen. In London habe ich Freunden, die hohe Ämter innehatten, mehrmals davon berichtet, dass in den unteren Chargen ihres Ministeriums oder ihres Zuständigkeitsbereiches bestimmte Dinge vor sich gingen, doch ich bekam jedes Mal zu hören: »Ach nein, das ist unmöglich, so etwas brächten meine Untergebenen gar nicht fertig, du übertreibst.«
Ein einziges Mal habe ich bisher über Machthaber gelesen, die in dieser Beziehung Verstand gezeigt haben. Das war im Mittelalter, und zwar im Vorderen Orient. Die dortigen Herrscher sorgten dafür, dass immer wieder Inspektoren eingesetzt wurden, die sich als gewöhnliche Leute ausgaben und mit diesem Status als Antragsteller auftraten oder auch irgendwo arbeiteten – sie sollten herausfinden, wie sich Amtspersonen verhielten. Waren diese inkompetent oder grausam, wurden sie ihres Postens enthoben. Entscheidend war, dass jede Amtsperson oder jeder, der sonst wie über Macht verfügte, genau wusste, dass die Person, die vor ihm stand, ein getarnter Regierungsinspektor sein konnte, und so neigten alle dazu, sich besser zu benehmen.
Gottfried: »Wenn wir erst einmal eine kommunistische Gesellschaft haben, wird es keine Ungerechtigkeit mehr geben.«
Hier taucht garantiert die Frage auf: »Aber Sie können doch unmöglich noch an die Vollkommenheit des Kommunismus geglaubt haben, oder? Sie müssen doch Bescheid gewusst haben über …« – über die erzwungene Kollektivierung, über die Säuberungen und so weiter. Damals zirkulierte ein Buch mit dem Titel
Ich wählte die Freiheit
von Viktor Krawtschenko. Wenn ich von »zirkulieren« spreche, muss ich dazusagen, dass Gottfried und Nathan meinten, sie seien an antisowjetischer Propaganda nicht interessiert. Einige von uns lasen das Buch und diskutierten darüber. Das Problem war, dass Krawtschenkos Bild ganz anders aussah, ja sogar das genaue Gegenteil all dessen beschrieb, was wir gelesen oder gehört hatten. Natürlich gab es in der Sowjetunion Schwierigkeiten, Probleme, Widrigkeiten, aber dass sie eine
totale
Tyrannei war …? Mitte der achtziger Jahre konnte ich beobachten, wie sich die gleiche Situation wiederholte. Ein russisches Mädchen hatte einen Engländer geheiratet und war zu ihm nach London gezogen. Die junge Frau reiste oft zu Besuchen nach Russland. Eines erzählte sie immer wieder: Wenn sie nach London oder nach Russland zurückkehrte, kam sie sich jedes Mal vor, als würde sie die Seite wechseln. Alles, was im Westen über die Sowjetunion gesagt wurde, war das Gegenteil dessen, was die Sowjetunion über sich selbst sagte. Wenn sie in Russland eintraf oder wieder nach England zurückkehrte, hatte sie jedes Mal das Gefühl, als würde in ihrem Kopf alles ins Gegenteil verkehrt. Bei der Lektüre von Krawtschenkos Buch hatten auch wir das Gefühl, dass in unserem Gehirn alles ins Gegenteil verkehrt wurde. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mich fühlte, und es gibt keinen Zweifel an meiner Erinnerung: Wenn das, was ich las, die Wahrheit war, dann konnte
wirklich nichts
von dem, was ich für wahr hielt, auch wahr sein.
Trotzdem könnte man sagen, dass sich zumindest in meinem Kopf mit der Zeit so etwas wie »eine andere Wirklichkeit« ausbildete. Koestlers Münzen des wahren Glaubens fielen uns sehr schnell aus der Tasche. Wenn es so etwas wie eine plötzliche »Konversion« nicht gibt – das heißt einen plötzlichen Gesinnungswandel, ohne dass sich schon zuvor im Kopf eine Menge kleiner Eindrücke angesammelt haben –, dann gibt es auch keine plötzliche Konversion in die andere Richtung.
In Diskussionen zu diesem Thema taucht unweigerlich der Begriff »paranoid« auf.
Dr. Jerrold Post, ein amerikanischer Experte für politische Paranoia, der in Tom Mangolds Buch
Cold Warrior
zitiert wird – in dem es um James Jesus Angleton geht, der jahrelang die CIA leitete (obwohl er regelrecht verrückt war) –, definiert Paranoia als »feste Überzeugung, die nach Hinweisen sucht, die diese Überzeugung bestätigen. Erfüllen bestimmte Anzeichen diesen Zweck nicht, werden sie ausgeblendet. Paranoia ist eine mechanische Reaktionsweise, die nicht angeboren ist. Sie hat soziale Ursachen und wird im familiären Umfeld von
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