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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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frühester Kindheit an erlernt. Sie entwickelt sich als Abwehr gegen Bedeutungslosigkeit und Nichtbeachtung der eigenen Person. Paranoiker finden es angenehmer, Menschen gegen sich zu haben, als nicht beachtet zu werden. Ihre geordnete Weltsicht dient zur Abwehr der als chaotisch empfundenen Welt. Das klare, geordnete Bild einer Welt, die sich gegen sie verschworen hat, ist für sie leichter zu ertragen, da es ihnen ein Gefühl der psychologischen Sicherheit vermittelt.
    Paranoia ist altersunabhängig, sie ist eine treibende Kraft und verändert sich im Lauf des Lebens. Dem Selbstbild eines Paranoikers zufolge ist er es, der allein Wache hält und sich einer Aufgabe widmet. Die Last ruht ausschließlich auf den Schultern des Paranoikers.
    Paranoiker sind immer die Letzten, denen klar wird, dass sie verwirrt sind. Und wenn sie Probleme haben, glauben sie jedes Mal, dass die Schuld daran bei jemand anderem liegt. Das wichtigste Forum für die Gedanken eines Paranoikers ist wahrscheinlich der eigene Kopf …«
    Mithilfe dieser Definition fällt es leicht, die halbe Menschheit als paranoid einzustufen. (Was, nur die Hälfte?)
    Das Entscheidende ist aber, dass diese Prozesse nichts mit rationalem Denken zu tun haben. Wir haben es in dieser Frage mit jahrtausendealten, religiösen Geisteshaltungen zu tun, die – manchmal buchstäblich – durch die Feuer der Inquisition tief in uns eingebrannt worden sind.
    Von dem Zeitpunkt an, in dem meine Liebe zum Kommunismus, oder eher zum Ideal des Kommunismus, entflammte, das heißt ab 1942 , brauchte ich vier oder fünf Jahre, um so viel Kritikfähigkeit zu entwickeln, dass ich meine »Zweifel« mit Menschen diskutieren konnte, die sich weiterhin als Kommunisten verstanden. Noch zwei, drei Jahre später sprach ich mit anderen Kommunisten über Tatsachen und Ideen, wofür wir in einem kommunistischen Land gefoltert oder getötet worden wären. Schon 1954 war ich keine Kommunistin mehr, aber erst Anfang der sechziger Jahre hörte ich wirklich auf, mich zur Loyalität verpflichtet zu fühlen, war ich wirklich frei. Das heißt, dass ich gute zwanzig Jahre gebraucht habe, um keine Schuldgefühle mehr zu haben und alles abzuschütteln. Ich schäme mich noch immer, wenn ich daran denke, wie schwierig es für mich war, vor Leuten, die dem Kommunismus weiterhin die Treue hielten, zu sagen, was ich dachte.
    Dabei war ich in der Lage, mich freier zu verhalten als die meisten anderen, weil ich Schriftstellerin bin und die Psyche einer Schriftstellerin habe, die immer für eine gewisse Distanz sorgt zu dem, worüber ich schreibe. Der ganze Vorgang des Schreibens ist ein Akt der Distanzierung. Darin liegt auch sein Wert – für die Schriftstellerin und für die Menschen, die sich die Resultate dieses Vorgangs zu Gemüte fuhren, durch den das Undefinierte, das Individuelle, das Unkritisierte, das Ungeprüfte ins Allgemeine transportiert wird.
    Die vielleicht größte Münze, die uns aus der Tasche fiel, war gleich die allererste, denn der sowjetische Kulturattaché und seine Frau kamen aus Südafrika angereist, um »Medical Aid for Russia« mehr Gewicht zu verleihen. Wir träumten tagelang von dem Moment, in dem wir diese Repräsentanten der schönen neuen Welt, die in der Sowjetunion im Entstehen begriffen war, kennenlernen würden. Das Wort »Enttäuschung« reicht zur Beschreibung einfach nicht aus. Die beiden waren ein Ausbund an Durchschnittlichkeit. Wir Frauen hatten uns besonders auf die Begegnung mit der Frau des Kulturattachés als der »neuesten« der Neuen Frauen gefreut. Doch sie unterschied sich nur dadurch von jeder beliebigen jungen Hausfrau aus Salisbury, dass sie »a la Johannesburg« gekleidet war. (»Man kann nie zu viel Goldschmuck tragen.«) Ihr Mann hatte Unmengen von Brillantine in den Haaren und ein ganz passables Äußeres. Sie begeisterten sich für seichte Romane und schlechte Filme. Sie wussten absolut nichts über die politischen Bedingungen in Südrhodesien und nicht besonders viel über Südafrika. Sie erzählten, dass sie beim Anblick von Schwarzen Gänsehaut bekämen – sie verzog dabei leicht angeekelt ihr Gesicht. Die beiden waren der Inbegriff all dessen, wogegen der Großteil von uns angetreten war.
    1947  … 1948  – das war zweifellos die schlimmste Zeit meines Lebens. Schlimme Zeiten, die einem endlos erscheinen, machen aus dem Herzen eine Art schwarzes Loch, das alles Leben, alle Energie verschlingt. Wie sehr sich damals doch alles hinzog.

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