Unter der Haut (German Edition)
Männer zu unterstützen, war er von der gewalttätigen Sprache des Nationalismus abgestoßen. Wie hätte es auch anders sein können? Jahre-, ja jahrzehntelang hatte er sich mit Takt, Humor und Geduld in seiner Stellung gehalten, aber es war immer eine Gratwanderung gewesen, da ihn die Weißen immer als Agitator und Kommunisten attackierten. Er war von seinem Temperament her sanft, umsichtig und besonnen. Und jetzt kam hinzu, dass er langsam alt und schwermütig wurde. Obwohl die katholische Kirche ihm mit Exkommunikation gedroht hatte, war er zutiefst religiös. »Nur Gott kann uns helfen«, betonte er oft auch dann, wenn sich im Zimmer sonst nur erklärte Atheisten befanden. »Nur Gott und seine Engel.«
Als es zum »Streik in der Schwarzensiedlung« kam, der genauso berühmt wurde wie die »Versammlung in der Schwarzensiedlung«, fielen wir genauso aus allen Wolken wie Charles. Der Führer des Streiks saß in Bulawayo. Gestreikt wurde für einen Mindestlohn von einem Pfund im Monat. Das war der Lohn, den damals ein Koch bekam, allerdings ergänzt durch Lebensmittel und andere Naturalien. Niemand konnte von einem Pfund im Monat leben. Die Forderung nach einem Mindestlohn wurde vom Parlament zurückgewiesen. Dass die Weißen auf diese Forderung mit ihrer üblichen Entrüstung und Besorgnis reagierten (»Sie werden einen Aufstand machen und uns alle ins Meer treiben«), entsprach dem vertrauten, an eine Farce erinnernden Schauspiel. Hinter der Forderung der Schwarzen steckte allerdings ein unglaubliches Ausmaß an Leid, an Not und an Brutalität – was wir sehr wohl wuss- ten, was die anderen Weißen aber nicht zu begreifen schienen. Es war doch nicht möglich, dass die Neger auf eigene Initiative hin streikten, das musste das Werk von kommunistischen Agitatoren sein. Es war fast unvermeidlich, dass sich die Weißen aus dieser Einsicht heraus eine unglaubliche Dummheit leisteten, die die Farce perfekt machte. Eine Dummheit, die sich gegen die eigenen Interessen richtete. Damals waren nur wenige Schwarze politisch motiviert oder über ihre eigene Situation informiert, geschweige denn über die Situation in anderen Ländern. Die meisten wussten nicht, dass es so etwas wie Gewerkschaften gab. Außerdem hatte man ihnen, während der sechzig Jahre dauernden Besatzung durch die Weißen, Tag und Nacht eingehämmert, dass sie Affen seien, beschränkt, zurückgeblieben und minderwertig. Als die Behörden sicher sein konnten, dass sich alle Arbeitskräfte der Stadt in der Schwarzensiedlung befanden, schlossen sie die Tore und stellten rund um die Siedlung Wachen auf. Die Menschen im Viertel konnten nicht mehr hinaus. Lebensmittel oder andere Versorgungsgüter durften nicht mehr hinein. Die Weißen wollten ihre rebellierenden Untertanen aushungern, um sie zur Unterwerfung zu zwingen, und gaben das offen zu. Doch innerhalb des Zauns befanden sich auch einige »Agitatoren«, die ihre Zeit mit diesem eingesperrten und verängstigten Publikum zu nutzen wussten. Fünf Tage lang lauschte eine zunehmend wütender werdende Menge den aufrührerischen Beschreibungen ihrer eigenen Situation – keinesfalls kommunistisch gefärbt, allenfalls nationalistisch –, in denen Vergleiche zwischen der Situation vor Ort und der von Arbeitern in anderen Ländern angestellt wurden. Es war ein Schnellkurs in politischer Theorie und Praxis. Wir konnten es nicht fassen, dass die Obrigkeit dermaßen dumm war. Aber wenn sie Angst bekommt, reagiert normalerweise jede Obrigkeit dumm. Die Weißen sahen sich mit ihrem unterschwellig permanent vorhandenen Albtraum konfrontiert, dass die Schwarzen sich erheben und ihnen die Kehle durchschneiden würden.
Ich habe den Eindruck, dass dieser Streik und das Inhaftieren der Schwarzen, die hungerten und Propagandareden zu hören bekamen, einen regelrechten Wendepunkt darstellten. Die berühmte Versammlung in der Schwarzensiedlung hatte den Weißen nur ein paar kurze, prickelnde Schauder über den Rücken gejagt; die meisten Schwarzen erfuhren schlicht nie etwas davon. Doch der Streik machte allen deutlich, wie grausam die Weißen in Wirklichkeit waren und vor allem wie wenig sie vom Elend der Schwarzen wussten.
Seither habe ich dasselbe Phänomen mehrmals und in vielen Zusammenhängen beobachtet: Menschen, die über Macht oder Amtsgewalt verfügen, scheinen nie zu wissen, wie die, über die sie herrschen, leben und empfinden. Es ist ganz so, als gäbe es einen Mechanismus im Gehirn, der sie von den Regierten
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