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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Nordrhodesien oder heim nach England, weil sie vom Leben hier enttäuscht waren. »Nicht jeder kommt mit dem Leben hier zurecht, wissen Sie.« Vor allem Frauen kamen häufig nicht mit dem Leben dort zurecht.
    Wenn mein Vater zeitlebens zarte und selbstredend platonische Freundschaften mit Frauen unterhielt (heute muss man deutlich aussprechen, was man damals als selbstverständlich vorausgesetzt hätte), so hatte meine Mutter ebenfalls Verehrer, die merkten, dass ihr das Leben auf der Farm keinen angemessenen Rahmen für ihre außerordentlichen Fähigkeiten bot. Einer von ihnen war George Laws, ein Bruder von Miss Laws, einer Lehrerin in Sinoia, die eine entfernte Cousine meines Vaters war. Mr. Laws hatte eine Holzkonzession für das Staatsland zwischen den Flüssen. Er war es, der meiner Mutter ein Gestell baute, damit sie im Bett lesen konnte, eine Rückenlehne für das Bett, einen Klavierhocker, Sofas und Sessel aus Lattenholz und Wohnzimmertische, die so schwer waren, dass man sie kaum von der Stelle bewegen konnte, selbst wenn sie nicht unter Büchern, Zeitungen und Illustrierten begraben waren.
    Dann stand meine Mutter wieder auf. Es musste sein. Sie behauptete, vom Gewicht ihrer Haare Kopfschmerzen zu bekommen, schnitt sie sich ab und erschien mit bloßem, kahl geschorenem Nacken. Einem »Bubikopf«. Mein Bruder weinte. Ich weinte. Wir setzten uns in die üppigen braunen Haarmassen, wickelten uns darin ein und heulten, während sie dabeisaß und uns mit ironischer Miene zuschaute. Dann sagte sie: »Gut! Das war das!«, und packte ihr Haar in Papier und warf es in die Müllgrube.
    Immer noch kamen mit jeder Post Unterlagen von Fernkursen ins Haus, aber sie fragte sich, wozu sie Geld ausgeben sollte, wenn sie es selber besser machen konnte. Sie brachte uns Erdkunde bei, indem sie Wasser in unsere Sandgrube kippte und darin Kontinente, Landengen, Flussmündungen und Inseln baute. Auf diese Weise lernten wir, Landmassen und Ozeane zunächst so zu sehen wie zu der Zeit, als die Menschen noch glaubten, dass die Erde flach wäre. Danach bestellte sie einen kleinen Globus aus Salisbury, der per Eisenbahn geliefert wurde, und damit vollzogen wir die kopernikanische Wende. Sie ließ meinen Vater in seinem Klappstuhl am steilen Abhang draußen vor dem Haus Platz nehmen, rief den Koch und das
piccanin
aus der Küche. Mein Vater war die Sonne. Die beiden Bediensteten waren die großen Planeten Jupiter und Saturn. Für Pluto und Mars mussten Steine herhalten. Ich war Merkur und mein Bruder die Venus. Wir liefen um meinen Vater herum, während sie sich als die Erde langsam bewegte. »Ihr müsst euch vorstellen, dass sich die Sterne mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen, dass alles immer in Bewegung ist.« Dann winkte sie einmal ungeduldig, und das kosmische Ordnungssystem fiel in sich zusammen. Jetzt war mein Vater die Erde, und mein Bruder und ich durften abwechselnd der Mond sein. »Natürlich müsst ihr euch vorstellen …«
    Unablässig sagten wir das Einmaleins auf. Wir lernten die Bäume und Pflanzen Englands aus kleinen Büchern kennen. Eines unserer Bücher hieß
Französisch ohne Tränen.
Die Schulräte aus Salisbury kamen, um bei den Farmerkindern nach dem Rechten zu sehen, und sagten, ja, wir machten gute Fortschritte. Ja, wir seien weiter als die anderen unserer Altersstufe. Aber wir müssten zur Schule. Es bestehe Schulpflicht. Außerdem müssten Kinder zu sozialen Wesen erzogen werden.
    Eine Zeit lang überlegte meine Mutter, ob sie daheim auf der Farm eine kleine Schule gründen sollte. Auf den Farmen in der Nähe wohnten Kinder verschiedener Altersgruppen. Aber auch wenn es heute mit guten Straßen kein Problem wäre, bestand damals das Haupthindernis darin, dass man diese Kinder Tag für Tag die zwei, drei, vier, fünf, sieben Meilen zur Schule und wieder nach Hause hätte schaffen müssen. Außerdem hatte diese Frau zwar ein pädagogisches Talent für kleine Kinder, aber keine Lehrqualifikation. Und das war
das
.

Kapitel Sechs
    Ich zog jetzt in das dritte Zimmer, vom Wohnraum aus gesehen, und das blieb meins, bis ich für immer von der Farm fortging. Es war ein großes, quadratisches, hohes, strohgedecktes Zimmer, weiß gekalkt, licht und hell. Von meinem Bett aus sah ich, wie die Sonne über den Chrome Mountain kletterte und am Himmel rasch meinem Blick entschwand. Ich sah den Mond aufgehen, emporsteigen und entschweben. Ich klemmte immer einen Stein zwischen Tür und Rahmen, damit ich sehen

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