Unter der Haut (German Edition)
wir liegen gleich nach dem Zubettbringen in unseren Betten, vom andern Ende des Hauses kommen die Stimmengeräusche von Erwachsenen, und meine Mutter spielt Klavier. Mein kleiner Bruder und ich unterhalten uns noch leise, wohl wissend, dass wir schon schlafen sollten. Ich spinne die Gutenachtgeschichten meiner Mutter fort, über die Tiere im Busch, die Mäuse im Vorratsraum. Dann versuche ich, ihm mit dem heiligen Georg und dem Drachen Angst zu machen. Und werde selber ängstlich. Der Drache liegt groß und breit auf dem Strohdach, verdeckt den Himmel, aus seinem Maul sprüht Feuer. Ich weiß genau, dass dort kein Drache ist, und trotzdem vergehe ich vor Angst. Es ist ähnlich wie mit den bösen Feen, von denen ich mir eingeredet habe, dass sie in den Zimmerecken lauern, und dabei weiß ich genau, dass ich sie mir ausgedacht habe. Als ich schließlich nach meiner Mutter rufe und sie kommt und tröstend sagt, dass da kein Drache sei und hinter den Vorhängen keine Feen, bin ich ungehalten, weil das nicht der Punkt ist. Sie sollte mit mir schimpfen, weil ich meinen kleinen Bruder nicht einschlafen lasse, weil ich »Geschichten erfinde«. Eines Tages, als ich ganz unten am Fuß des Hügels an einem alten krummen und knorrigen Baum stehe, der aussieht wie Peter Pans Bäume in Kensington Gardens, stelle ich mir Feen so intensiv vor, dass nicht viel fehlt und ich sie sehe. Wenn ich den Termitenhügel hinter seinen Vorhängen aus Farnkraut und Tradescantien mit Feen und Kobolden bevölkere, dann ist das, was ich erschaffe, eine tiefe, lauschende Stille, und ich weiß, wenn ich den Kopf schnell genug drehe, ohne dass sie damit rechnen, dann werde ich sie sehen. Was nicht heißt, dass ich glaube, sie wären wirklich da. Genau wie ich an die böse Fee glaube und nicht glaube. Dass ich nicht an den Weihnachtsmann glaube, hindert mich nicht daran, auf die Rentiere zu warten und meinem Bruder zu erklären, dass sie zum Fenster hereinkommen werden, weil wir keinen Schornstein haben. Lange, ernste Unterredungen, mit gedämpften Stimmen geführt, die zur klein gedrehten Lampe und den Schatten im Zimmer passen, über Rentiere und mit welcher Geschwindigkeit sie von England herfliegen müssen, wenn sie rechtzeitig zu Weihnachten da sein wollen, und ob die Rentiere zwischendurch landen müssen, um zu fressen, und was sie wohl von Bäumen und Gräsern halten, da sie doch so gern Moos mögen. Als mein Bruder meiner Mutter erzählt, dass ich glaube, die Rentiere würden zu Weihnachten kommen und Musasa- und Mafutiblätter fressen, sehe ich an ihrem Stirnrunzeln, dass sie überlegt, wie Realität und ein nützliches und notwendiges Maß an Fantasie bei mir ins Gleichgewicht zu bringen wären, und sage rasch, dass ich natürlich nicht an Weihnachtsrentiere glaube.
Meine Mutter beschloss, herzkrank zu sein. Von diesem Zeitpunkt an lebte sie in dem Bewusstsein, dass sie herzkrank war und jeden Moment sterben konnte. Zu guter Letzt starb sie im respektablen Alter von dreiundsiebzig Jahren, an einem Schlaganfall. Ich verstand schon als kleines Mädchen, welcher psychologische Nutzen aus einem kranken Herzen zu ziehen ist, und glaubte, sie hätte ihre Krankheit erfunden, um Mitleid zu erregen. Ich glaubte auch, dass mein Vater nicht von dem Herzleiden überzeugt war.
Heute begreife ich, warum sie sich ins Bett legte. In jenem Jahr durchlebte sie eine innere Umorientierung, wie viele von uns sie mindestens einmal im Leben durchmachen müssen, wenn wir Dinge aufgeben, ohne die wir bis dahin nicht leben zu können glaubten. Ihr Bett wurde in das große Zimmer gestellt, wegen der Fenster und der Aussicht auf die Hügel, unter den strengen Blick ihres Vaters John William und seiner kalten, pflichtbewussten Frau. Überall um sie herum waren die Zeichen und Symbole des gutbürgerlichen Lebens, auf das sie ein Anrecht zu haben geglaubt hatte, zumindest in der Zukunft: Silbertabletts, englische Aquarelle, Perserteppiche, die Klassiker in roten Lederausgaben, die Vorhänge von Liberty. Aber sie lebte in einem Haus, das eigentlich nicht mehr war als eine Lehmhütte, und alles, was sie von ihrem hohen Bett aus sehen konnte, war afrikanischer Busch und der
compound
der Farmarbeiter auf dem Nachbarhügel.
Der Arzt kam häufig aus Sinoia zu uns herüber. Man wusste damals noch nicht so viel über Angstzustände wie heute. Er verschrieb Bettruhe. Doktor Huggins, ihr eigentlicher Arzt in Salisbury, fragte, wenn sie ihn in ihren Briefen um Hilfe anging, warum
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