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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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sie sich an ihn wende, wenn sie doch schon einen Arzt habe, der für sie sorge. Doktor Huggins – später Lord Malvern – war ein unwirscher Mensch, der nicht an die Notwendigkeit schonender Behandlung glaubte, weder als Arzt noch als Politiker: Er wurde kurze Zeit später Premierminister.
    Mehrmals am Tag rief sie mich und Harry ans Bett und sagte dann eindringlich: »Arme Mami, arme, kranke Mami.« Die Erinnerung daran macht mir deutlich, wie angegriffen sie gewesen sein muss. »Arme Mami« entsprach schlicht nicht ihrem Stil. Ich hingegen kochte vor Wut. Mein kleiner Bruder umarmte sie jedes Mal, wenn er darum gebeten wurde. Ich umarmte sie herzlich, aber ärgerte mich dann und bedauerte meine Herzlichkeit. Bald weigerte ich mich, an ihr Bett zu kommen, wenn der Koch mich rief. »Mami ist krank«, wies mein Vater mich zurecht, und ich fauchte: »Nein, ist sie nicht«, denn der Konflikt war zu viel für mich.
    Trotzdem widmete sie sich weiter unserer Bildung, und ich kann die Selbstdisziplin, die sie dazu aufgebracht haben muss, nur bewundern. An ihrem Bett stehend oder auf dem Rand sitzend (»Ermüdet eure Mutter nicht. Lehnt euch nicht bei ihr an. Lasst …«), lernten wir das kleine Einmaleins und die Grundrechenarten, aber die Leseübungen waren bereits viel zu einfach. Sie erzählte uns Geschichten und las uns vor.
    Dann kam Mrs. Mitchell mit ihrem Sohn, um meine Mutter zu »entlasten«. Harry schlief noch bei meinen Eltern im Zimmer. Ich teilte ein Zimmer mit Mrs. Mitchell. Ihr Sohn war in dem Zimmer am Ende des Hauses untergebracht.
    Ich erlebte sie als grausam und ihren Sohn als Rüpel. Sie trank. Als sie ging – schon bald, nach wenigen Wochen –, wurden überall geheime Lager mit leeren Flaschen gefunden, unter Büschen, in Schränken. Sie roch immer nach Alkohol. Wie war sie wirklich? Wenn sie sich als Krankenschwester und Hausmädchen für eine kranke Frau verdingt und einen schulpflichtigen Sohn hatte, kann sie wohl keinen anderen Ausweg mehr gewusst haben. War sie verwitwet? Von ihrem Mann verlassen? Auf der Flucht vor einem brutalen Ehemann? Es war vor der Wirtschaftskrise, als die Frauen, deren Männer keine Arbeit hatten, jeden Posten annahmen, der sich ihnen bot.
    Meine ganze Kindheit hindurch bekamen wir zu hören, wie arm wir seien, wie knapp das Geld sei, dass wir nicht das bekämen, was uns zugestanden hätte. Ich glaubte es. Dann lernte ich auf der Schule Kinder aus richtig armen Familien kennen. Im alten Südrhodesien lebten Weiße, die sich gerade eben über der Hungergrenze hielten, immer verschuldet waren, vor Schuldnern auf der Flucht, von Trunksucht und Brutalität gefährdet. Vor Kurzem ist
Toe-rags
erschienen, ein Buch von Daphne Anderson, in dem die Geschichte eines Mädchens erzählt wird, das eine Kindheit in dieser Art von Armut durchgemacht hat. Oft waren es die schwarzen Hausangestellten, die für sie sorgten. Sie war genauso alt wie ich, und verglichen mit ihr verlebte ich eine behütete, privilegierte Kindheit. Das Buch wird – bisher – wohl kaum von den Schwarzen in Simbabwe gelesen, wo man immer noch meint, davon ausgehen zu müssen, dass alle Weißen reich sind und reich waren. Wie sich zeigt, zögern Weiße, es zu lesen, weil ihnen der Gedanke nicht behagt, dass das Leben der Weißen im britischen Südrhodesien so erbärmlich war. Der grandiose Mythos von der Überlegenheit der Weißen wirkt in diesem Buch traurig und krank, auch wenn die schöne Verfasserin mit Mitte zwanzig eine gute Partie machte und, wie wir zu sagen pflegen, von da an glücklich und zufrieden lebte bis ans Ende ihrer Tage. Ich hoffe, dass
Toe-rags
in Simbabwe bald in die Lektürelisten der Geschichtsseminare aufgenommen wird.
    Aus diesem schrecklich armen Milieu kam Mrs. Mitchell. Sie kann nicht länger als ein Trimester bei mir im Zimmer gewohnt haben, vielleicht auch nur die Sommerferien über. Es war eine Quälerei, eine Angstpartie ohne Ende. Ich lag in der stickigen Dunkelheit unter dem Moskitonetz. Sie lag unter dem anderen Moskitonetz. Ich hörte die Geräusche, die bedeuteten, dass sie trank. Ich hörte die Flasche zwischen der Bettkante und dem Netz hinabgleiten und auf die Matte plumpsen. Sie schnarchte. Sie warf sich auf ihrem Lager hin und her. Nebenan schrie ihr Sohn im Schlaf. Einmal stritt sie sich so laut mit dem Jungen, dass meine Mutter mit einer Kerze in der Hand und offenen, taillenlangen Haaren in der Tür erschien, um die beiden zum Schweigen zu bringen. Und sie

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