Unter der Haut (German Edition)
kindliche Leseratten essen beim Lesen. Man nimmt mit den Augen Bilder auf, und mit dem Mund Kalorien. Ich war immer noch mit den Büchern aus den elterlichen Regalen beschäftigt. Die Familien, in denen gelesen wurde, tauschten untereinander Bücher aus, zumeist Memoiren und historische Abhandlungen über den Krieg. Das Bild, das ich mir vom Ersten Weltkrieg machte, war ausschließlich von der Stimme meines Vaters und seinen Geschichten über den Stellungskrieg geprägt: »Und dann – es war kurz vor Paschendaele …, es ging mir so schlecht, mir war, als ob ich in eine schwarze Wolke eingehüllt wäre, und ich schrieb den Eltern, dass es mich diesmal erwischen würde. Aber ich bin davongekommen, der Granatsplitter erwischte nur mein Bein.« Die Bücher aber enthielten andere Geschichten über den Krieg, wobei mich
Im Westen nichts Neues
, von meinem Vater glühend gelobt, besonders beeindruckte. Seine Identifikation mit den deutschen Soldaten, die wie die englischen Tommys von ihren Generälen verraten worden waren, ging meiner Mutter bisweilen gegen den Strich. »Aber sie waren unsere Feinde«, protestierte sie dann in bekümmertem Ton, denn sie war instinktiv autoritätshörig, wo er instinktiv gegen jede Autorität rebellierte. Und er entgegnete: »Hätte alles nicht passieren dürfen. Die kleinen Leute waren genauso wenig für den Krieg wie wir. Mir ist kein einziger Tommy begegnet, der das Blutvergießen wollte. Nein, die Rüstungsfabrikanten wollten den Krieg. Denen kam der Krieg zupass.«
Wir besaßen einen Bericht über englische Krankenschwestern, die verwundete Serben versorgten. (Während ich diese Zeilen schreibe, sind die Serben alles andere als arme Opfer, die der liebevollen Pflege unseres freiwilligen Schwesternkorps bedürften.) Ein anderer handelte von einer jungen russischen Frau, die mit den Soldaten an der deutschen Front kämpfte, ohne dass die merkten, dass sie kein Mann war. Ich identifizierte mich leidenschaftlich mit diesen Frauen und träumte davon, Krankenschwester zu werden, allerdings bestimmt nicht in einem Londoner Krankenhaus, sondern auf gefährlichen Schlachtfeldern. Oder ich stellte mir vor, mit den russischen Soldaten den Rückzug anzutreten, als ihre Angriffslinien zusammenbrachen und sie desertierten, um in ihre Dörfer heimzukehren. Jahrelang, jahrzehntelang war hier im Westen unser Bild von Russland zur Zeit des Zusammenbruchs geprägt von der Vorstellung eines riesigen, chaotischen, verlausten, demoralisierten, hungrigen Landes, das dringend die Revolution brauchte. Ein kleines Buch von Bulgakow, sein erstes,
Arztgeschichten
, schildert seine Arbeit in einem Dorf unweit von Moskau, aber die Kämpfe, die er zu bestehen hatte, richteten sich gegen bäuerlichen Aberglauben und Ignoranz, und der Leser erfährt nur, dass Krieg herrscht, als ein Soldat von der Front heimkehrt.
Und immer noch kamen, wie es schien, mit jedem Zug, Bücherpakete aus London, darunter unzählige Kinderbücher aus Amerika. Die zahllosen Folgen von
Anne of the Green Gables. The Girl of Limberlost
und die Folgebände.
What Katy Did
und die Fortsetzungen. Das Leben in Amerika, vor allem im Mittleren Westen etwa eine Generation vor meiner eigenen, war mir als Kind im Busch vertrauter als die Erinnerungen meiner Mutter an das lustige Leben in der Stadt oder die Kindheit meines Vaters mit den Bauernjungen in den grünen Feldern von Colchester.
Problematisch an diesen Büchern war ihre verführerische Wirkung, die Leichtigkeit, mit der man sie lesen konnte, es war wie Bonbonlutschen. Manchmal habe ich Zweifel an dem Wert von Kinderbüchern. Wenn einem keiner sagt, dass Dickens oder Erwachsenenbücher zu schwer sein könnten, kämpft man sich durch, überspringt Passagen, wo es nicht anders geht, und macht sie sich bald zu eigen. Kinderbücher nehmen einem die Lust an der Anstrengung. Ich habe sie jahrelang gelesen, mich mit ihrer Hilfe eingelullt, mich in Tagträume geflüchtet. Ich lebte fast ausschließlich in meinen Tagträumen, außer wenn ich mit meinem Bruder im Busch war, wo man seinen Verstand beisammenhaben musste.
Wir waren nicht zärtlich miteinander, mein Bruder und ich. Englische Familien erziehen ihre Sprösslinge nicht zu liebevollem Umgang miteinander. Jedenfalls früher nicht: Vielleicht ist das heute anders. Auf der Klosterschule war ich dabei, mir die Fähigkeiten einer Überlebenden in Einsamkeit und im Exil anzueignen. Und wenn man einen kleinen Jungen mit acht ins Internat schickt,
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