Unter der Haut (Hauptkommissar Leng ermittelt) (German Edition)
ebenmäßig, und wenn er lachte, musste sich jede Frau in ihn verlieben. Seine elegante Kleidung wirkte teuer, aber nicht protzig. Und er verstand sich auf Farben. Was er trug, das stand ihm auch. Wenn es so etwas wie einen Traumprinzen gab, so stand er gerade vor ihnen. Seltsamerweise hielten seine Affären, wie er sie selber einmal genannt hatte, immer nur wenige Wochen, weshalb sie für ihn nie den Status einer Beziehung erreichten.
„Warten Sie. Ich gehe voraus“, sagte der Arzt und strebte dem Eingangsbereich entgegen. „Es hat sich hier eine ganze Menge verändert seit Ihrem letzten Besuch.“ Bei der Begeisterung, die in seiner Stimme mitschwang, hätte man meinen können, er sei der Institutsleiter oder der Architekt für die Innengestaltung; doch die nächsten Sätze erklärten seinen Überschwang, der darauf zurückzuführen war, dass sich die Arbeitsbedingungen und Forschungsmöglichkeiten durch den Umbau deutlich verbessert hatten.
„Im ersten Stock residiert der Forschungsbereich Science I, wo neue Analysemöglichkeiten entwickelt werden, beispiels-weise die Nutzbarmachung von Zellproteinen. Diese Proteine sind dynamisch und verändern ihren Zustand je nach Zelltyp und Umweltbedingungen. Wenn wir lernen, diese Zusammen-hänge zu verstehen, könnte man mit einer Proteinanalyse zum Beispiel den Todeszeitpunkt viel genauer bestimmen als es heute mit der Körpertemperaturmessung möglich ist.“
„Einen eigenen Ballerraum habt ihr ja offensichtlich auch bekommen“, bemerkte Prado spitz und verwies auf ein Schild an der Wand.
„Richtig, unser neu eingerichteter Schießkeller befindet sich im Untergeschoss. Er erlaubt Forschungen zum Thema Wundballistik, also das Verhalten von Geschossen beim Eintritt in den Körper.“
Auf ihrem Weg durch den langen Flur wurde Leng auf ein weiteres Schild mit der Aufschrift Rechtsmedizinische Ambulanz aufmerksam. Sand, dem der Blick nicht entgangen war, setzte gleich zu einer Erklärung an.
„In den beiden neu eingerichteten Ambulanzräumen können von den Rechtsmedizinern Verletzte bei Verdachtsfällen von häuslicher Gewalt, Kindesm isshandlung und anderen Formen der Gewalteinwirkung begutachtet und untersucht werden. Im Moment laufen Forschungsprojekte, die den Einfluss der ärztlichen Dokumentationsqualität auf das juristische Verfahren und seinen Ausgang klären sollen.
Wie wichtig unsere Arbeit ist, habe ich erst letzte Woche wieder erfahren, als ich im Falle eines Kindesmissbrauchs vor Gericht aussagen musste. Die kleine Melanie, nicht einmal acht Jahre alt, war vom Freund der Mutter über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren wiederholt missbraucht worden. Diese hatte zwar die Verhaltensauffälligkeit ihrer Tochter bemerkt, aber sie mit Schulstress oder noch immer nicht bewältigtem Trennungsschmerz in Bezug auf ihren Vater zu erklären versucht. Eines Abends, als sie von der Arbeit nach Hause kam, fand sie das Mädchen mit Unterleibsschmerzen im Bett liegend vor. Das Nachthemd war am unteren Ende Blut durchtränkt, und als die Mutter es hochschob, sah die Vagina der Kleinen wie ein rohes Stück Fleisch aus. Sie ahnte, was passiert sein musste und entschied sich, nachdem sie zuerst einen Krankenwagen anrufen wollte, in unser Institut zu kommen, weil sie gleich um die Ecke in der Weinsbergstraße wohnt.
Sie hatte Glück, mich so spät noch anzutreffen. Ich untersuchte das Mädchen behutsam, stellte etliche Fissuren und Sperma im Intimbereich fest sowie Druck- und Würgemale an den Handgelenken und am Hals. Nichts Lebensbedrohendes letztlich. In wenigen Wochen wird davon nichts mehr zu sehen sein; aber die Augen des Kindes sprachen Bände. In ihnen konnte ich lesen, dass sie das Erlebte nie vergessen und alle zukünftigen Beziehungen belasten würde.
Zu Beginn hatte sie sich vehement gegen die Untersuchung gewehrt, aber es gab keine Kollegin, die mich hätte vertreten können. Also bedurfte es der guten Zuredung ihrer Mutter, bevor ich sie überhaupt anfassen durfte.“
„Wie ist die Gerichtsverhandlung ausgegangen?“ wollte Leng wissen, der sichtliche Mühe hatte, seine aufkeimende Wut zu kontrollieren.
„Der Täter ist zu fünf Jahren Ha ft verurteilt worden, ein Strafmaß, das durchaus auch geringer hätte ausfallen können, wären da nicht die Untersuchungsergebnisse gewesen, die belegten, mit welcher Rohheit und Rücksichtslosigkeit er das Mädchen vergewaltigt hatte. Zuvor war es zwar auch immer wieder zu sexuellen Handlungen gekommen,
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