Unter die Haut: Roman (German Edition)
Gesprächsfaden wieder aufnehmen, und in ihrem Kopf herrschte absolute Leere. Was hatte er zuletzt gesagt? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie den Telefonhörer abgenommen hatte, aber sie wusste, dass inzwischen höchstens fünfzehn oder zwanzig Sekunden vergangen waren. Was hatte er auf ihr »Hallo« gesagt? Denk nach, verdammt noch mal! Es war so etwas gewesen wie »Ich nehme an, Sie haben meinen Anruf schon erwartet«, oder? Worauf sie automatisch mit einem neutralen »Hmm« geantwortet hatte.
Jetzt fragte sie vorsichtig: »Sind Sie das, Hart?«, obwohl sie bereits wusste, dass er es war. Allein die Frage zu stellen und zu hören, dass ihre Stimme verhältnismäßig ruhig klang, bewirkte, dass ihr das Atmen etwas leichter fiel. Gut. Sie klang nicht annähernd so nervös, wie sie sich fühlte. Automatisch fasste sie an ihre Hosentasche, um mit den Fingern über das Skalpell zu streichen. Vielleicht sollte sie so tun, als befände sie sich in ihrem praktischen Jahr und wäre gerade der psychiatrischen Abteilung zugeteilt. Diesen Teil der Ausbildung hatte sie zwar nicht mit besonders großer Begeisterung absolviert, aber sie hatte es trotzdem geschafft, ihn mit einer respektablen Beurteilung hinter sich zu bringen.
Und sie würde auch das hier hinter sich bringen.
»Ja«, wisperte die Stimme. »Ich bin’s. Sind Sie allein?«
Ivy dachte ungefähr fünf Sekunden lang nach. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich habe Besuch.«
»Was für einen Besuch?«
Sie nahm sich nicht die Zeit, sich eine Antwort zu überlegen, sondern reagierte instinktiv, als sie kühl erwiderte: »Das geht Sie wirklich nichts an. Was kann ich für Sie tun?«
Die Tür ging auf und Vincent kam hereingerannt, barfuß, in der Hand hielt er das Gerät zum Zurückverfolgen von Anrufen. Er kauerte sich neben sie und begann an den Anschlüssen herumzufummeln. Seinem grimmigen Gesichtsausdruck nach zu schließen, hätte er eigentlich lauthals fluchen müssen, aber er gab keinen Ton von sich. Jaz, Sherry und Keith Graham kamen gleich hinter ihm, aber sie hielten sich in gebührendem Abstand und ließen ihm Platz zum Arbeiten. Keiner sagte ein Wort.
»Sie tun schon dadurch etwas für mich, dass es Sie gibt«, versicherte der Anrufer Ivy. »Sie existieren, Doc. Also bin ich.«
Ivy klappte der Unterkiefer herunter. »Wie bitte?« Oh Scheiße. Das hatte sie wirklich nicht sagen wollen, vor allem nicht in diesem beinahe beleidigend konsternierten Ton … Es war ihr einfach so herausgerutscht. Aber existenzialphilosophischer Schwachsinn? Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Es ist, als wären wir eins, Doc«, führte er aus, offenbar konnte ihn ihr skeptischer Ton nicht erschüttern. »Ich spüre ganz deutlich, dass Ihnen die Art, wie ich denke, vertraut ist. Niemand sonst versteht das, nur Sie – und das zu wissen hilft mir, die Stimme zu beruhigen.«
»Sie hören eine Stimme?« Beim letzten Wort versagte Ivy die ihre. Hitze kroch über ihren Hals bis zu ihren Wangen, und sie tastete mit der Hand blindlings nach Vincents Schulter, was ihr erst bewusst wurde, als sie seine warme Haut unter ihren Fingern spürte.
Bei ihren Worten hatte er ruckartig den Kopf gehoben, und einen Augenblick verharrten beide unbeweglich wie ein Standbild: Vincent, der zu Ivys Füßen kauerte und zu ihr hochsah, Ivy, die auf ihn hinunterstarrte und ihre Finger in seine Schulter grub. Sie fühlte sich völlig hilflos.
»Was sagt Ihnen diese Stimme denn?«, zwang sie sich schließlich in sachlichem Ton zu fragen, während sie widerwillig Vincents Schulter losließ, um den Hörer mit beiden Händen zu stützen. Vincent wandte sich wieder seinem Gerät zu und machte sich mit noch mehr Eifer daran zu schaffen.
»Sie befiehlt mir, ihnen das zuteil werden zu lassen, was sie verdienen«, antwortete Hart ohne jede Gefühlsregung. »Sie verlangt von mir, dafür Sorge zu tragen, dass sie sich an mich erinnern.«
Seine Emotionslosigkeit machte sie betroffen. »Wer sind ›sie‹, Hart?«, fragte sie ruhig. »Die Frauen, die Sie verletzt haben?«
»Ich habe verdammt noch mal nichts getan, worum sie nicht gebeten hätten!«, sagte er schroff, und für einen kurzen Moment wurde er lauter. Dann schien sich seine Empörung genauso schnell, wie sie ihn überkommen hatte, wieder zu legen. Er kehrte zu dem gewohnten heiseren Raunen zurück. »Sie haben etwas an sich, was die Stimme dazu veranlasst, mich nicht so oft zu quälen«, erklärte er ihr jetzt gelassen.
»Nur um
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