Unter die Haut: Roman (German Edition)
herausgeholt. Heute fühlte sich Vincent jedoch völlig ausgelaugt und hatte alles bis oben hin satt. Er hatte einfach nicht die Nerven dafür.
Der Sergeant am Empfang legte den Hörer auf und sah Ivy an. »Tut mir Leid, Ma’am«, sagte er. »Es ist keiner mehr da.«
»Verdammt!« Ivy schlug mit der flachen Hand auf den Tresen, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte hinaus, bevor der Sergeant ihr anbieten konnte, den Beamten anzupiepsen, der heute Bereitschaft hatte.
Was jetzt? Sie kochte vor Wut, als sie auf die Straße trat und auf den vor Hitze flirrenden Asphalt starrte. Sie atmete möglichst flach, um nicht zu viel von der abgasgeschwängerten Luft in ihre Lungen zu bekommen. Sollte sie etwa bis morgen warten? Gott, so lange hielt sie es nicht aus.
Natürlich kannte sie die Dienstzeiten der Special Assault Unit. Sie hatte auch schon befürchtet, dass es zu spät sein könnte, wenn sie aufs Revier kam. Trotzdem hatte sie gehofft, dass D’Ambruzzi oder jemand anderes aus seiner Abteilung noch da wäre. Hätte sie die Notaufnahme doch nur sofort verlassen, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte...
Aber diese Überlegung nützte ihr jetzt auch nichts mehr. Was hätte sie denn machen sollen – sie konnte die Schmerzen des armen Kindes doch nicht einfach ignorieren. Außer einem neuen, äußerst nervösen Assistenzarzt war niemand verfügbar gewesen, und der kleine Junge musste sofort behandelt werden; sein Zustand musste stabil sein, bevor sie ihn auf die Station für die Brandverletzten bringen lassen konnte. Danach hatte sie einige Zeit gebraucht, um seine Eltern zu beruhigen. Trotzdem hätte sie es noch vor Dienstende schaffen können, wenn sie nicht im Verkehr stecken geblieben wäre.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, als sie in der brütenden Nachmittagshitze die steile Straße zu dem Parkplatz erklomm, auf dem sie ihr Auto abgestellt hatte, und kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, sich Vorwürfe zu machen. Das änderte doch nichts daran, dass sie einfach zu spät gekommen war, um noch jemanden zu erwischen.
Aber was sollte sie jetzt tun?
Vincent versuchte, die nötige Energie aufzubringen, um sich etwas zu essen zu machen, als es an seiner Tür klingelte. Normalerweise kochte er gern und betrachtete es eher als angenehme Freizeitbeschäftigung denn als Arbeit, aber seit ein paar Tagen war er so erschöpft, dass ihn schon das bloße Atmen anzustrengen schien.
Er gähnte und spielte mit dem Gedanken, das Läuten einfach zu ignorieren. Er wollte nichts weiter, als auf dem Sofa liegen bleiben, auf das er sich gleich nach dem Heimkommen hatte fallen lassen. Wahrscheinlich war es sowieso bloß irgendein junger Zeitschriftenwerber, der ein Abonnement an den Mann bringen wollte, also warum unnötig Energie verschwenden? Gelegentlich schafften sie es, die Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen, indem sie hinter einem anderen Hausbewohner durch die Haustür schlüpften. Es klingelte jedoch erneut, und mit einem resignierten Seufzen rappelte er sich hoch.
Zurzeit schien niemand etwas mit ihm zu tun haben zu wollen, und der letzte Mensch, mit dem er gerechnet hätte, als er die Tür öffnete, war Ivy Pennington.
Ohne jegliche Einleitung hielt sie ihm einen Plastikbeutel mit einem Umschlag darin unter die Nase. »Er weiß, wer ich bin.« Die letzte Stunde hatte sie damit verbracht, nervös in ihrer Wohnung hin und her zu laufen, und inzwischen war sie außer sich vor Angst.
Vincent fragte sich nicht, woher der plötzliche Energieschub kam, der seine Nervenenden zum Vibrieren brachte. Er blickte auf den Umschlag und sah dieselbe Druckschrift vor sich wie auf der letzten Karte, die sie ihm gebracht hatte. »Oh Scheiße. Noch eine. Steckte sie wieder in einem Strauß?«
»Nein, dieses Mal kam nur die Nachricht.«
Er packte ihren Arm, zog sie in seine Wohnung und schlug die Tür zu. Halb führte, halb zerrte er sie in sein Wohnzimmer, wo er sie sanft auf das Sofa drückte. Während er besorgte ihr verstörtes Gesicht musterte, erkundigte er sich: »Alles in Ordnung?«
Sofort sprang sie wieder auf und starrte ihn fassungslos an. »Nein, nichts ist in Ordnung!« Sie begann in seinem Wohnzimmer auf und ab zu gehen und deutete auf den Beutel in seiner Hand. »Lesen Sie! Dieser Vergewaltiger, dieser Kerl, der – wie haben Sie ihn bezeichnet? Bösartig und gewalttätig? Er weiß, wer ich bin, D’Ambruzzi!«
Vincent ging in die Küche und kramte in der Besteckschublade nach einer
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