Unter die Haut: Roman (German Edition)
Mutter geglaubt, als sie ihr erzählte, ihr viereinhalbjähriger Sohn sei ein kleiner Tollpatsch und sei die Kellertreppe hinuntergefallen, als sie einen Augenblick lang nicht auf ihn aufgepasst habe. Die Frau wirkte nervös, aber sie war aufrichtig besorgt um ihr Kind. Den Vater hatte Ivy nur kurz zu Gesicht bekommen, als man den Eltern mitgeteilt hatte, dass nur einer von ihnen beiden bei ihrem Sohn in dem engen Behandlungsraum bleiben könne. Er hatte auf sie den Eindruck eines Mannes gemacht, der seinen Zorn unterdrückte, aber sie hatte zu oft miterlebt, wie unterschiedlich Eltern auf eine Verletzung ihres Kindes reagierten, als dass sie sich ein voreiliges Urteil erlaubt hätte. Häufig äußerte sich Besorgnis auf diese Weise.
Doch als man ihr dann die Aufnahmen aus der Röntgenabteilung gebracht hatte, war ihr schwer ums Herz geworden. Nachdem die Krankenschwester sie am Leuchtschirm befestigt hatte, hatte Ivy zwei alte Brüche entdeckt. Sie hatte Ellen wortlos auf die verheilten Verletzungen aufmerksam gemacht, und sie hatten einen düsteren Blick ausgetauscht. »Informieren Sie das Jugendamt«, hatte sie die Schwester mit leiser Stimme angewiesen.
Ellen wollte schon zum Telefon gehen, aber Ivy hatte sie mit einer Handbewegung zurückgehalten und gesagt: »Warten Sie.« Sie hatte sich zu Jaimes Mutter umgedreht. »Mrs. Newman, ich muss Sie bitten, zu Ihrem Mann in den Warteraum zu gehen, während wir Jaime den Gipsverband anlegen. Wir brauchen dazu noch etwas mehr Platz.«
In dem Augenblick, in dem sich der Vorhang hinter der Frau geschlossen hatte, hatte sie sich wieder Ellen zugewandt. »Wenn Sie mit dem Jugendamt gesprochen haben«, hatte sie leise gesagt, »… rufen Sie bitte im Archiv an. Erkundigen Sie sich, ob Jaime früher schon mal eingeliefert wurde. Wenn die etwas finden, egal was, sollen sie es uns sofort schicken.« Anschließend hatte sie zusammen mit der zweiten Krankenschwester vorsichtig Jaimes gebrochenen Arm eingegipst. Währenddessen hatte sie den Kleinen behutsam ausgefragt. Es waren seine in aller Unschuld formulierten Antworten, die sie letztlich hinaus auf den Korridor getrieben hatten. Sie brauchte einen Augenblick Ruhe, um sich zu sammeln.
»Ivy?« Sie riss die Augen auf und sah sich Vincent gegenüber, der dicht vor ihr stand. Sie war nicht einmal überrascht, ihn zu sehen. Besorgt musterte er ihr Gesicht. »Alles in Ordnung?«, fragte er schließlich.
»Nein.« Sie deutete mit dem Kinn auf den geschlossenen Vorhang. »Ich habe da drin ein misshandeltes Kind liegen«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Ach du Scheiße.«
»Ja. Du nimmst mir das Wort aus dem Mund.« Ivy stieß sich von der Wand ab und ging ein Stück den Korridor hinunter, um ganz sicher zu sein, dass man sie im Behandlungsraum nicht hören konnte. Sie drehte sich um und sah Vincent an, der ihr gefolgt war. »Er ist noch nicht einmal fünf Jahre alt, Vincent, und das ist schon das dritte Mal, dass sein Arm gebrochen ist. Das dritte Mal. Mein Gott, wie ich solche Fälle hasse. Wir informieren gerade das Jugendamt, und aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie Jaime von seinen Eltern wegholen. Nach allem, was er uns erzählt hat, bestehen kaum Zweifel daran, dass er von seinem Vater misshandelt wird.«
»Aber das ist doch gut, oder?« Vincent betrachtete ihr erschöpftes Gesicht und nickte verständnisvoll. »Abgesehen davon, dass der Junge damit aus seiner gewohnten Umgebung gerissen wird und sich dann in den Fängen des Fürsorgesystems befindet.«
»Ja.« Ivy seufzte. »Und wir wissen beide, was dabei herauskommen kann.«
»Er könnte Glück haben, Ivy. Es gibt auch ein paar gute Heime.«
»Ich weiß«, stimmte sie zu. »Aber wenn er im falschen landet, ist das der erste von vielen Schritten, die ihn schließlich zum Täter machen.«
Dem konnte er nicht widersprechen; genau so war es. Seine Abteilung hatte ununterbrochen mit den Kinderschändern zu tun, und alle, mit denen er gesprochen hatte, waren als Kind selbst missbraucht worden. Es fiel nicht leicht, Mitleid für erwachsene Täter zu empfinden, aber die viel beklagte wachsende Kriminalitätsrate würde innerhalb einer Generation drastisch sinken, wenn sich die Gesellschaft insgesamt besser um ihre Kinder kümmern würde.
Er konnte sie nicht trösten, und er versuchte es auch gar nicht erst. Ivy zuzuhören und ihre Verzweiflung zu spüren half ihm jedoch, die Entscheidung zu treffen, über die er nachgegrübelt hatte, seit er in der vergangenen Nacht
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