Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
sich auf.
Ruthven zog seine Jacke aus, legte sie ihr über die Schulter und half er ihr auf. Sie folgte ihm gehorsam zum Haupthaus. Er sorgte dafür, dass sie baden konnte und ein neues Kleid bekam. Luis wies er an, sich tagsüber um sie zu kümmern, verbrachte die Abende mit ihr, machte ihr Geschenke, ließ köstliche Speisen auftragen und erlaubte ihr, sich im Haus frei zu bewegen.
Er hoffte, sie würde sich in ihn verlieben, wenn er zurückhaltend blieb und um sie warb. Am Anfang zierte sie sich noch, weil es ihr zu abwegig erschien, dass ein weißer Mann eine Farbige liebte. Aber nach und nach wuchsen ihre Gefühle für ihn. Er las es in ihren Gedanken und war der glücklichste Mensch. Seine Silvie war zu ihm zurückgekehrt. Nichts und niemand würde sie mehr trennen.
Endlich war er am Ziel seiner Wünsche, als sie eines Abends seine zärtlichen Annäherungen erwiderte, sich an ihn schmiegte und ihn küsste.
Mit zitternder Stimme wagte er das Unvorstellbare. »Rosie«, fragte er leise, »wärst du bereit, meine Frau zu werden?«
Einen Moment schaute sie ihn ungläubig an. Fürchtete, er könne Spaß mit ihr treiben. Doch als sie sah, dass es ihm ernst war, nickte sie lächelnd. Ruthven wurde schwindlig vor Glück. Er schob alle Bedenken daran beiseite, wie schwierig es sein würde, ihr ein Ehemann zu sein. Irgendwie würde sich eine Lösung finden. Vielleicht war es ein gutes Zeichen für die Menschen hier. Die erste offizielle Vermählung einer Farbigen und eines weißen Mannes. Der Beginn einer neuen Zukunft. Ihrer beider Glück konnte nicht vollkommener sein.
Schweißgebadet lag sie in dieser Nacht in seinen Armen, gehörte ihm zum ersten Mal wieder ganz. Ihr Duft benebelte ihn. Zärtlich bedeckte er ihren Körper mit Küssen. Sie schaute ihn liebevoll an, während sie miteinander verschmolzen. Ihr leises Keuchen weckte eine schier unstillbare Sehnsucht in ihm. Als sie gemeinsam den Gipfel erreichten, fühlte er sich ihrer Seele so nah wie nie zuvor.
»Ich muss gehen«, hauchte er ihr ins Ohr, als es draußen bereits dämmerte. Sie nickte selig. Leise verließ er das Zimmer und legte sich in dem geheimen Raum im Keller zum Schlafen nieder.
Ahnungslos, was er am Abend vorfinden würde.
* * *
Brandgeruch weckte Ruthven, und eine böse Vorahnung beschlich ihn, als er die Stufen hinaufrannte. Der Anblick, der ihn erwartete, war grauenvoll.
Das Haus und die Scheunen lagen größtenteils in Schutt und Asche. Einige seiner Nachbarn liefen zwischen den Trümmern umher, trugen Wassereimer, jedoch hatten sie nichts retten können. In dem Chaos wunderte sich kaum einer über sein plötzliches Auftauchen, niemand stellte Fragen. Die Farbigen hatte man wie Vieh abgeschlachtet, die Frauen zum Teil vergewaltigt. Das Wort Verräter prangte mit Blut geschrieben an den Resten des großen Scheunentores.
»Wir sind sofort gekommen, als wir das Feuer gesehen haben. Aber da war es schon zu spät«, entschuldigte sich George Evans, dem das nächstgelegene Anwesen gehörte. »Es war eine Gruppe von Konföderierten. Dutzende von ihnen streifen derzeit umher, um zu plündern und zu morden, seit der Krieg verloren ist.«
Ruthven machte nur eine abwehrende Handbewegung, er hörte die Worte kaum. Suchend glitt sein Blick durch die Trümmer. Er spürte das Fehlen von Silvies Aura, wusste, sie war tot, musste es aber mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben. Und da sah er sie. Sein markerschütternder Schrei ließ alle zusammenzucken. Mit tränenüberströmtem Gesicht zog er ihren entstellten Leichnam zwischen den eingestürzten Balken hervor. Ihre Haut war von Brandblasen übersät, ihr Rücken aufgeplatzt. Man hatte sie zu Tode gepeitscht, ehe man sie in den brennenden Trümmern zurückließ – sie und viele andere Sklaven. Der Schmerz in ihm wuchs mit jedem Herzschlag. Es gab nur eines, was ihn besänftigen konnte, und die Gier danach wurde übermächtig.
Er drückte dem völlig überraschten Evans die Leiche in die Arme und bat, dass er sie und die anderen beerdigen möge. Auf der Suche nach unschuldigem Blut flüchtete er in die Nacht hinaus.
Am nächsten Tag, dem 23. Juni 1865, ergaben sich die Konföderierten, die das Massaker auf Ruthvens Anwesen zu verantworten hatten, als letzte Truppe. Der Bürgerkrieg war endgültig vorbei. Doch für Silvie war es einen Tag zu spät.
Der Schmerz war grauenvoller denn je gewesen. Doch wenn er geglaubt hatte, dass dies der Gipfel aller Grausamkeiten war, so wurde er bei ihrer
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