Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
wirkte überrascht, als ob sie vergessen hätte, dass er dort saß.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er sanft und schob die Tasse beiseite. Seine Stimme hatte etwas Wärmendes, Zärtliches.
Madeleine lächelte zögernd. »Wissen Sie, ich bin verlobt. Aber er denkt, ich betrüge ihn. Dabei lasse ich doch nur ein Bild von mir malen.« Ihre Stimme zitterte.
Ruthven schnürte es die Kehle zu. Er schluckte hart. Das hatte er schon einmal erlebt. Damals war er der Eifersüchtige gewesen. »Wissen Sie, vielleicht ist er einfach nicht der Richtige für Sie, wenn er Ihnen nicht vertraut.«
»Aber ich liebe ihn, und das weiß er.«
»Ich verstehe. Nur, manchmal sehen die Menschen etwas, das gar nicht da ist, und dann tun sie Dinge, die sie hinterher bereuen.« Er schaute ihr in die Augen.
Madeleine erwiderte den Blick. Etwas Vertrautes schwang zwischen ihnen. Einen Moment schien alles um sie herum zu verschwimmen, es gab nur sie und ihn. Irritiert schüttelte sie den Kopf.
Er las in ihren Gedanken wie in einem offenen Buch. Ihre Verwirrung, doch gleichzeitig auch das Vertrauen, das in ihr keimte. Er würde es langsam angehen lassen. Die zarten Bande behutsam festigen.
Er hatte alle Zeit der Welt.
Den Rest des Abends unterhielten sie sich über ihrer beider Leben, ihre Pläne. Sie lachten gemeinsam und spürten, wie ihre Zuneigung wuchs – dem Öffnen einer Rosenblüte gleich.
Sehr viel später verließen sie das Café, glücklich über den Verlauf des Abends.
»Darf ich Sie nach Hause begleiten?«, fragte Ruthven und hielt ihr den Schirm. Es regnete noch immer, als ob Gott alle Schleusen im Himmel geöffnet hätte.
»Danke, Monsieur«, erwiderte sie lächelnd, »aber ich bin verlobt. Die Leute sollen nicht reden.«
Er nickte freundlich. Auch wenn er enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken. »Es war ein sehr schöner Abend.«
»Ja, das war er«, bestätigte sie.
»Dann wünsche ich Ihnen eine angenehme Nacht.«
»Ihnen auch eine gute Nacht, Monsieur Wallham. Es wäre nett, Sie einmal wiederzusehen.« Damit nahm sie ihren Schirm wieder an sich, verabschiedete sich und ging davon.
Er schaute ihr nach. Der Regen durchnässte seine Kleidung, er merkte es kaum. Es waren nur noch wenige Menschen auf den Straßen. Da hörte er ein Knirschen, seine Augen richteten sich auf das halb fertige Haus, das Madeleine gerade passierte, und er erschrak.
In Gedanken versunken kostete sie noch das Gefühl aus, das sie in seiner Nähe verspürt hatte, und bemerkte nicht die Gefahr, in der sie schwebte. Sie achtete nicht auf die Straßen, nicht auf den Regen, nicht auf das, was um sie herum geschah. Neben ihr landete ein Klecks Mörtel auf dem Weg. Sie hörte das Platschen und tat einen Schritt zur Seite. Neugierig blickte sie nach oben. Durch den Regenschleier sah die halb fertige Hauswand wie ein gruseliges Schloss aus alten Kindergeschichten aus. Wieder landete Mörtel neben ihr. Doch statt weiterzugehen, verharrte sie wie gelähmt. Knirschen erfüllte die Luft, erste Steine fielen ihr entgegen. Jetzt schien ihr bewusst zu werden, was geschah, doch noch immer bewegte sie sich nicht. Das Haus zitterte, als wolle es die Nässe des Regens abschütteln, dann gab die Mauer nach. Madeleines Augen weiteten sich vor Schreck.
Ruthven zögerte keine Sekunde. Er wusste, sie würde sterben, er würde sie wieder verlieren. Das durfte nicht geschehen. Wie ein Schatten huschte er heran, gleichgültig, was die paar Leute denken mochten, die umherstanden und gafften. Im letzten Moment riss er sie fort. Die Wand krachte in einem ohrenbetäubenden Crescendo auf die Straße. Die Fenster der gegenüberliegenden Straßenfront zerbarsten, ein Passant wurde von den Splittern getroffen und blieb bewegungslos liegen.
Ruthven hielt Madeleine in den Armen, unsagbar glücklich, dass sie noch lebte. Er hatte es geschafft. Diesmal hatte er sie gerettet.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte er und hielt sie weiter schützend umschlungen.
»Ja«, stammelte sie aufgeregt, »ich weiß nicht, was passiert ist.« Zitternd hielt sie sich an ihm fest.
»Das Haus ist eingestürzt, als Sie darunter standen.«
»Dann haben Sie mir das Leben gerettet.«
»Ja, das habe ich wohl«, antwortete er und lächelte, ebenso aufgewühlt wie sie. »Und nun bringe ich Sie nach Hause, damit Ihnen nicht doch noch etwas geschieht.«
Madeleine nickte dankbar, nannte ihm ihre Adresse, und er hielt eine Droschke an. Zehn Minuten später standen sie vor Madeleines Haustür.
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