Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
nächsten Begegnung eines Besseren belehrt.
* * *
Glitzernde Regentropfen prasselten sintflutartig auf das Kopfsteinpflaster. Ruthven stand unter dem Vordach eines Hauses und schaute in die flackernde Gaslaterne, die die Kreuzung erhellen sollte. Automobile und Fuhrwagen eilten selbst um diese Zeit von einem Ort zum anderen. Die mürrischen Gesichter der Kutscher zeugten von ihrem Unmut, bei diesem Wetter Waren auszuliefern. Droschken hielten am Straßenrand, Fahrgäste stiegen ein und aus, eilten zum nächsten Eingang in der Hoffung, nicht allzu nass zu werden. Ruthven lächelte. Wie hilflos die Menschen doch waren im Angesicht der Naturgewalten. Er beobachte und suchte nach einem Opfer.
Plötzlich sah er sie und war sofort gefangen, hielt den Atem an, zitterte. Sein Herz hämmerte vor Aufregung. Die leuchtende Aura ihrer Seele brannte sich wie ein Feuer in seine Pupillen, verzehrte ihn. Er blinzelte, wollte sichergehen, dass er keiner Sinnestäuschung erlag. Nein, die Aura war ihm vertraut: Silvie.
Sie war groß, streng gescheitelt schmiegte sich das mit Pomade geglättete Haar an den Kopf. Zum kurzen, eng geschnittenen Kleid trug sie eine Federboa – nicht die richtige Kleidung bei diesem Wetter. Selbst der Schirm in ihren Händen konnte nicht vollständig dafür sorgen, dass sie trocken blieb. Ihre hochhackigen Pumps mit den Knöchelriemchen trieften vor Wasser. Ruthven schüttelte den Kopf. Wie konnte man bei diesem Regen nur solche Schuhe anziehen? Wahrscheinlich war sie auf dem Weg zu einem Rendezvous, denn sie betrat ein Café.
Ruthven hatte seine Geliebte wiedergefunden. Diesmal würde er es nicht soweit kommen lassen, dass sie ihm wieder entrissen wurde. Er wartete noch zehn Minuten, lief dann eilig über die Straße. Bevor er das Café betrat, schüttelte er die Regentropfen von seiner Kleidung und strich sich durch die kurzen Haare. Den Spazierstock, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, hängte er mit dem Griff an seinen Arm, öffnete die Tür und schlüpfte ins Trockene. Einen Moment blieb er im Eingang stehen. Nahm die Atmosphäre in sich auf. Die Chippendale-Möbel waren typisch für diese Zeit. Gedämpftes Licht empfing ihn ebenso einheimelnd wie leise Gesprächsfetzen, die zu ihm herüberdrangen. Unaufdringliche Ober huschten von Tisch zu Tisch, nahmen Bestellungen auf und brachten Getränke. Aromatischer Zigarrenrauch hing in der Luft. Ruthven entledigte sich des nassen Mantels und hängte ihn an die Garderobe. Die Frau mit Silvies Seele saß an einem kleinen Tisch, ein junger Mann an ihrer Seite. Beide stritten leise, sie weinte und führte mit zittrigen Händen langsam eine Tasse Kaffee an den Mund. Am liebsten wäre Ruthven, der das Gespräch belauschte, zu ihnen gegangen, hätte den Kerl am Kragen gepackt und zugebissen. Niemand sollte seiner Silvie weh tun. Zornig senkte er den Kopf. Auf einmal stand der junge Mann auf und rauschte an ihm vorbei aus dem Café. Zurück blieb eine weinende Frau, die die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich zog.
Mit bedächtigen Schritten trat Ruthven an ihren Tisch. »Entschuldigen Sie, Mademoiselle, darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Sie schaute hoch, Tränen liefen ihre Wangen hinab.
Er reichte ihr ein Taschentuch. »Ich möchte Sie nicht belästigen, aber dies ist der einzige freie Platz heute Abend. Und ich habe einen weiten Weg hinter mir.«
Einen Moment geschah nichts. Sie starrte ihn an. Er las ihre Gedanken. Darin lag Verzweiflung. Ihr Verlobter hatte ihr gerade eröffnet, dass er die Hochzeit absagen würde, weil sie ihm untreu wäre. Kaum merklich kniff Ruthven die Augen zusammen. Dieser Mistkerl. Ihr etwas Derartiges zu unterstellen. Er war schon so gut wie tot.
»Oh, entschuldigen Sie, wie unhöflich. Ich vergaß, mich vorzustellen. Mein Name ist Ruthven Wallham«, sagte er freundlich und unterbrach die peinliche Stille.
Sie nickte und wies auf den Stuhl. »Mein Name ist Madeleine LaRoux.«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Madeleine.« Er lächelte sie aufmunternd an. Am liebsten hätte er sie tröstend in die Arme geschlossen. Stattdessen setzte er sich nur und wartete ab. Madeleine schwieg in ihrer Trauer. Da er sie nicht bedrängen wollte, bestellte er sich einen Kaffee, schwieg ebenfalls, beobachtete sie jedoch genau. Ihre tränenfeuchten Augen, die weichen Gesichtszüge, die feine Nase ...
Nach seiner zweiten Tasse Kaffee hielt er das Schweigen nicht länger aus und räusperte sich. Madeleine schaute auf. Sie
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