Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
die atemberaubende Übelkeit nicht Überhand nehme. Schließlich grub er sein Gesicht in die Hände, während er sich fragte, ob es ihn nur so überwältigte, weil er zu Margarete Graft eine besondere Verbindung gehabt hatte? Er wusste es nicht zu sagen. Traurig schaute er wieder auf.
Der gewaltige Körper der Frau hing wie ein schlaffer, unförmiger Sack alter Wäsche an einem dicken Strick, der über einen Deckenbalken gehängt und an einem schweren Metallhaken in der Decke gebunden worden war. Allerdings schien die Schlinge nicht sachgerecht geknüpft worden zu sein, denn sie wirkte sonderbar ungerade. Wahrscheinlich hatte daher kein Bruch des Genicks für ein schnelles Ende gesorgt, und jemand musste versucht haben, auf anderem Wege nachzuhelfen. Es erschien Firminus, als habe sich einer an die Heimmutter gehängt, damit sie breche oder ihr Atem geraubt würde, und in der Tat war ihr Gesicht dunkel gefärbt, und die aufgequollene Zunge hing ihr wie eine letzte, unzerkaute Mahlzeit aus dem Mund. Fast erinnerte ihn das purpurne Stück Fleisch an einen knotigen Knebel. Damit war der Grausamkeit aber noch kein Ende gegeben.
Das Gewicht oder die Kraft dessen, was sich an sie gehangen hatte, musste unablässig gewirkt haben, denn die Schlinge hatte das Fleisch vom Halswirbel abgetrennt, sodass zwischen ihrem Haupt und den Schultern der blanke Knochen wie ein abstraktes Bauteil einer difformen Maschine hervortrat. Der enorme, plumpe Leib hing derart tief herunter, dass die Fußspitzen der Toten fast den Boden erreichten. Zumindest in der schaurigen Ansicht wirkte es daher, als habe jemand versucht, ihren ganzen Unterleib wie ein verschmutztes Kleidungsstück zu den Füßen hin abzustreifen.
Das wahrlich Schauerliche an dieser Szenerie war jedoch, dass ihre Augen weit offen waren, als sehe sie auf einen ihr bekannten Mörder herab. Ihr Blick aber war leer und nicht von dieser Welt, so sah es Firm, denn er wähnte, dass ein Blick hinein genügen mochte, um die Pforten der Hölle aufzustoßen.
Der tapfere Kerl fand zudem noch etwas anderes zuhöchst auffällig – er hatte Margarete Graft das letzte Mal vor ein oder zwei Tagen gesehen, so genau war er nicht imstande, den Zeitrahmen festzulegen, doch sie schien hier viel länger zu hängen. Ihr Körper zeigte dunkle und offene Flecken, nicht selten mit neuem, wimmelndem Leben erfüllt, die Kleidung war an einigen Stellen dunkel vor Feuchtigkeit, und die Verwesung fraß sich durch Haut oder blähte einzelne Körperpartien auf. Seltsam auch, dass trotz des Gestankes und der Maden nicht eine Fliege im Raum zu sein schien.
Die Kadaver, die Firm aus den Gassen und Gossen kannte, waren umgeben von Insekten gewesen.
All das passte zeitlich nicht zusammen, und eine unergründliche Furcht ergriff ihn. Die Kinder – all die vielen Kinder waren spurlos verschwunden, als wäre nie ein einziger Kinderruf in dem Heim erklungen. Und sie hatten auch keine Spur hinterlassen. Kein Spielzeug, keine Puppen, keine Kleidung oder anderen Utensilien – nicht einmal von den Kleinsten unter ihnen war auch nur eine alte Windel zu finden. Nichts. Firm haderte mit sich, ob er fliehen oder suchen solle, doch der Gedanke, in irgendeiner Ecke könne noch eines der kleinen Kinder halb verhungert kümmern und auf Erlösung oder Hilfe warten, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, ehe er nicht auch den letzten Winkel des dunklen Gemäuers abgesucht hatte. Er stieg in den ersten Stock, sogar unter das Dach hinauf, und als da nichts zu finden war, bis in den kalten Keller hinab, wo die knurrende Maggie nicht selten die Unartigen eingesperrt.
Aber es blieb dabei. Keine Spur, dass je etwas Jüngeres in den Räumen gewesen war als er. Es verschlug ihn nicht für einen Augenblick zu dem Gedanken, aus einem langen Delirium erwacht zu sein und von den Kindern in ihrer unsäglichen Heimstatt nur geträumt zu haben. Er war sich sicher, dass der Schächer, der Margarete Graft auf seinem Gewissen hatte, im Auslöschen aller anderen Spuren ganze Arbeit geleistet haben mochte.
Doch so sehr ihn auch das Schicksal der anderen Kinder quälte, er mochte sich nicht länger hier aufhalten. Der Ort war ihm unheimlich geworden, schlichtweg böse. Und so floh Firminus Becket von dieser beklemmenden Stätte.
* * *
Letzter Heimgang
Er wusste nicht, was er draußen erwartet hatte, ob einen weiten, blauen Himmel zwischen den gebrochenen Giebeln oder das frische, kühle Nass des freien Regens, der ihn am Boden liegend mit Leben
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