Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
in das Dickicht auf der anderen Seite der Lichtung zurück. Marie fasste sich und ging zurück zum Haus. Grassow hatte ihre Abwesenheit nicht bemerkt. Sie schlich sich auf ihr Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen.
Ihr Vormund hatte indes seine Unterlagen geordnet. Er wollte es auf einer Handelsschule einer anderen Stadt versuchen. In diesem Haus mit einer sprachverlorenen Frau hielt er es nicht aus. Weitere Jahre konnte er sich dieses Anschweigen nicht vorstellen. In dieser unruhigen Zeit wollte er Halt finden. Marie war zu jung und zu weit entfernt vom Mittelpunkt des Lebens. Als er die Vormundschaft überstürzt übernommen hatte, war er sich nicht im Geringsten darüber im Klaren gewesen, was er sich damit einhandelte. Sie hatte weniger mit Menschen als mit der Wildnis Umgang. Ein paar Mal hatte er beobachten können, wie sie sich in den Wald hinausgeschlichen hatte. Er folgte ihr nicht; wollte nicht wissen, was sie dort draußen erlebte. Sie konnte nicht ganz normal sein. Irgendwas gefiel ihm an ihr nicht.
* * *
In der Nacht wachte Marie auf. Der Gnom war wieder erschienen. Er beugte sich über sie und rieb an ihren Schenkeln. Marie konnte ein knisterndes Lachen nicht unterdrücken. Die Nase des Gnoms verfärbte sich rot. Er schleckte den Schmutz der letzten Jahre aus ihr raus. Danach fühlte sie sich wie neugeboren.
Sie ging aus dem Haus und lief zum Wald. Als sie sich umdrehte, sah sie den Gnom nicht mehr hinter sich, sondern an der geöffneten Haustür, jenseits der Schwelle. Da stand er nun, zückte aus seinem Mäntelchen einen Dolch, der dem kleinen Mann als Schwert dienen konnte. Er schritt zum Schlafzimmer Grassows. Marie blickte gebannt auf den Gnom, der mittlerweile aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war.
Er stand vor Grassows Bett, betrachtete bedächtig dessen Brustkorb, der sich hob und senkte. Der Dolch stieß ins Herz. Aus dem Mund schoss ein wenig Blut – und diese Geschichte war beendet.
* * *
Marie rannte wie von Sinnen in den Wald. Dort scharten sich bald Wölfe um sie, hielten mit ihr Schritt. Erst tief im Herzen des Forstes hielt sie an und verschnaufte. Die Wölfe hielten Abstand. Urplötzlich tauchte der Gnom auf, hob den Zeigefinger und sagte: In den Kellern, in den Gewölben, in dem Wald wandelst du. Danach biss er sich besagten Finger ab, scharrte mit den Füßen ein Loch in den Erdboden und vergrub ihn.
»Recht hast du.« Marie hatte zur Sprache zurückgefunden. Ihre Zähne fehlten alle. Seitdem wurde sie nach jedem Waldbrand in zerrissenem Nachthemd kurz gesichtet. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen unterlaufen, die Lippen zurückgebildet, sodass Zahnfleisch zum Vorschein kam, und aus ihrem Mund strömte ein vernichtend übler Gestank.
Sie erschien nur Männern. Männern, deren Herz unrein und deren Zunge verdorben war.
Mark Freier
Mit Mark Freier verbindet mich eine mehrjährige Zusammenarbeit in einem Kleinverlag, die zwar dort beendet ist, aber ein solides Fundament für weitere gemeinsame Projekte geschaffen hat. So wird der Schöpfer phantastischer Grafiken die von mir ab 2010 herausgegebene Horrorreihe »Scream« im Sieben Verlag künstlerisch betreuen, aber das bleibt nicht das einzige Projekt.
Mark Freier wurde im Oktober 1967 in München geboren und ist ein Freund der dunklen Phantastik seit frühester Jugend an. Als Quereinsteiger in die digitale Bildbearbeitung beschäftigt er sich seit 1998 mit Foto-Manipulierung und ist seit 2004 als freiberuflicher Artwork-Grafiker für diverse Verlage im deutschsprachigen Raum tätig (u. a. für DVD-, CD- und Buchproduktionen).
Dreimal wurde er für den Deutschen Phantastik Preis als »bester Grafiker« nominiert.
Es ist mir immer eine besondere Freude, ihn auch dafür gewinnen zu können, einen Text zu einigen meiner Anthologien beizusteuern. So wie in dieser ist er auch in meinen preisgekrönten Kurzgeschichtensammlungen »Der dünne Mann« und »Der ewig dunkle Traum« vertreten.
www.freierstein.de
Unter dunklen Schwingen –
ist kein rechter Bund zu schließen
Mark Freier
Diejenigen Personen aus meinem Bekanntenkreis, die allgemein als weniger oberflächlich galten und so auch in der Lage waren, meine charakterlichen Eigenschaften, mein aufrichtiges Gemüt und mein ausgeprägtes Feingefühl einzuschätzen, wussten sehr wohl, dass ich bei meinen Erzählungen weder zu Verfälschungen noch zu Übertreibungen neige.
Bis vor einigen Jahren nutzte ich meine Zeit leidenschaftlich, um mich auf Reisen zu begeben, und
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