Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
sprang mit einem erstickten Schrei zurück, und Jan wich ebenfalls einige Schritte zur Tür. Julia presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Elsa starrte unbeweglich die Figur an, aus deren Inneren dieses Rasseln ertönte.
Als das Gewicht des Steins das Podest niederdrückte, schlug die eiserne Frau die Augen auf. Sie hob den Kopf mit einem harten Ruck, bei dem Julia eine Mechanik knirschen hörte. Die Arme hoben sich schnarrend bis zu halber Höhe. Dann klappten die Unterarme nach innen, als hielten sie jemand umschlungen. Die blauen Augen rollten von einer Seite zur anderen. Der Mund öffnete sich lächelnd, und Julia sah entsetzt, dass kleine weiße Zähne darin blinkten – eindeutig menschliche Zähne!
Der bemalte eiserne Leib sprang auf einmal auf, und in Herz- und Hüfthöhe fuhren je fünf blitzende Klingen heraus, so schnell, dass Julia erst gar nicht folgen konnte. Wenige Sekunden lang stand die Figur lächelnd da. Dann schloss sich der Mund, die Augenlider fielen zu, und die Arme sanken zur Seite. Mit einem schnarrenden Geräusch wurden die Messer zurückgezogen, der Leib schloss sich wieder. Julia konnte sich lebhaft vorstellen, wie in diesem Augenblick ein zerfleischtes, blutüberströmtes Opfer auf dem Podest in sich zusammensank.
Joschka Bühler räumte schweigend den Stein beiseite und blickte die Zuschauer an. »Nun?«
Markus fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. »Sie hatten Recht«, murmelte er mit gebrochener Stimme. »Es war ein gerechtes Urteil, das der Bischof Severin fällte, auch wenn die Strafe entsetzlich war.«
Bühler nickte. »Ich habe in der Chronik der Burg nachgelesen. Es muss eine schauerliche Szene gewesen sein. Sie schrie und tobte wie eine wilde Bestie. Vier Männer hatten alle Hände voll zu tun, sie mit langen Spießen in den Raum zu zwingen, während die Maurer ihr Werk verrichteten. Es heißt, dass sie wie eine Pantherin auf die Tür zusprang, die schon bis Kopfhöhe zugemauert war, und sich zu befreien versuchte. Aber die Männer stießen sie mit ihren Spießen fort, und die Maurer legten den letzten Stein in die Fuge und schlossen den letzten Lichtstrahl aus. Ich will Ihnen jetzt noch zeigen, was der Keller verbirgt.«
Er führte sie die Treppe hinunter. Kaltfeuchter Dunst schlug ihnen entgegen und ein beißend erdiger Geruch. Julia und Jan fassten einander an den Händen, als Joschka Bühler die Stablampe hob. Hinter einem Eisengitter stapelten sich Totenschädel und Knochen zu einer mächtigen Pyramide.
»Das sind die Überreste der Opfer der Gräfin.« Die Stimme des Verwalters klang dumpf in dem unterirdischen Raum. »Sie wurden hier bestattet, nachdem man den Jungfernhügel im Schlosshof aufgegraben und die Knochen darin gefunden hatte. Der Dorfpriester segnete sie, und danach wurde die Tür verschlossen.«
Professor Pike trat einen Schritt vor. Er legte beide Hände auf die Gitterstäbe und sprach Worte, die sich wie ein Segensspruch anhörten, aber in einer völlig fremden Sprache. Danach redete er die Gerippe an: »Schlaft in Frieden, Unglückliche! Möge der Engel des Todes euch gnädig sein! Mit Gottes Segen wird es uns gelingen, das Ungeheuer zu vernichten, dem ihr zum Opfer gefallen seid.«
Markus von Weldern schüttelte den Kopf. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen, Professor?«
»Auf jeden Fall möchte ich, dass der zugemauerte Raum aufgebrochen wird. Man soll alles herausnehmen, was drinnen steht, und es auf dem Burghof verbrennen. Ich werde genaue Anweisungen geben, wie das zu geschehen hat. Mir scheint, dieser zugemauerte Raum ist die Quelle des Bösen in diesem Haus.«
Markus nickte. »Ich kann nichts daran ändern, was in der Vergangenheit geschehen ist, aber ich will keine Erinnerung daran in meinem Schloss haben. Sorgen Sie dafür, Herr Bühler, dass der Raum so rasch wie möglich geöffnet und geräumt wird. Professor Pike wird Ihnen sagen, was Sie im Einzelnen zu tun haben.«
Bühler nickte. »Es wird geschehen, wie Sie verlangen. Allerdings werden wir Arbeiter aus Gmünd kommen lassen müssen, denn von den Bauern in der Umgebung würde keiner wagen, diesen Raum oder einen Gegenstand darin anzurühren. Ich werde mich gleich morgen darum kümmern.«
* * *
Markus und Elsa zogen sich nach der Besichtigung mit dem Verwalter zurück, um sich die Abrechnungen vorlegen zu lassen. Jan und Julia suchten die Bibliothek auf. Sie kamen aber nicht dazu, sich die dicken, handschriftlichen Kataloge anzusehen, denn Professor Pike
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