Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
seltsames Gefühl durchrieselte Julia, als die ersten Steine gelöst wurden und ein Sonnenstrahl in den Raum fiel. Immer mehr Steine wurden gelockert und entfernt. Immer mehr Licht drang ein. Die helle Morgensonne entblößte den Raum in seinem grässlichen Verfall und dem unbeschreiblichen Schmutz, der überall darin herrschte.
Joschka Bühler deutete auf das Himmelbett. »Man hat damals nur die Leiche hinausgetragen und alles andere unberührt gelassen. In der Chronik steht es genau beschrieben. Sie lag auf dem Bett da – verkehrt herum, mit den Füßen auf dem Kopfkissen und dem Kopf am Fußende. Ich denke, sie war schon eine Weile wahnsinnig, bevor sie starb.«
Markus nickte nur und wandte sich an den Professor. »Was soll jetzt geschehen?«
»Lassen Sie die Männer alles, was sich hier befindet, vor die Burg tragen – bis zum letzten Splitter.«
Die Arbeiter machten sich sofort ans Werk und liefen mit den ersten Möbelstücken die Treppe hinab und fingen an, vor der Burg einen mächtigen Scheiterhaufen zu bauen.
Die zerfallenen Kleider verschwanden. Das Bett wurde abgebrochen, die schweren Draperien entfernt. Die Arbeiter waren eben mit einer neuen Last die Treppe hinunter verschwunden, als Julia etwas auf dem schmutzig-vergilbten Bett liegen sah – eine Lederrolle, die mit dem Wappen derer von Weldern gesiegelt war. Ein merkwürdiges Verlangen überkam sie, und sie streckte die Rechte aus. Es war, als springe die Lederrolle in ihre Hand. Wie unter einem Bann hob Julia sie hoch und versteckte sie in ihrer Handtasche.
Mittlerweile hatten auch die Dörfler erfahren, dass sich bei der Burg etwas Sonderbares zutrug, und die Mutigsten trafen ein. Sie betrachteten den Scheiterhaufen, auf dem die Trümmer des Himmelbettes und Kleiderberge lagen, und rissen Mund und Augen auf. Einer wie der andere wichen sie zurück, als könnte dämonisches Unheil über sie kommen, wenn sie nur ein vorstehendes Brett berührten. Die Nachricht machte blitzschnell die Runde, und es dauerte nicht mehr lange, da standen alle Bewohner von Heidebrock und Dürnstätten im Burghof und starrten ängstlich den Scheiterhaufen an.
Der Professor hatte Anweisung gegeben, rundum eine kreisförmige Furche zu graben, in die er aus einem der seltsamen Behälter eine blaue Flüssigkeit goss. Dann trat er an den Scheiterhaufen heran und legte ein gelbes Büschel getrockneter Kräuter in seine Mitte. Schließlich befahl er, das Holz anzuzünden, und sobald die ersten Flämmchen loderten, warf er einen brennenden Span in die Furche. Augenblicklich flammte die Flüssigkeit auf und brannte mit spannenhohen, rotgelben Feuerzungen, die einen starken, süßlichen Geruch ausströmten.
Als die Flammen aufzüngelten, ertönte ein Schrei aus dem Holzstoß. Er klang so laut und erschreckend, dass Julia im ersten Augenblick dachte, einer der Umstehenden hätte sich verletzt. Aber der Schrei drang aus keiner menschlichen Kehle. Er hallte hohl und schaurig aus den Lüften herunter, wurde dünner und dünner und verklang schließlich.
»Es wird nicht lange dauern«, vermutete Jan. Tatsächlich – das alte, ausgetrocknete Holz brannte wie Zunder. Eine hohe Flammensäule stieg von der Spitze des Scheiterhaufens auf. Die Bewohner der beiden Dörfer standen im Kreis und starrten stumm und ängstlich das Schauspiel an, als erwarteten sie, aus den Flammen einen Dämon auftauchen zu sehen. Es geschah aber nichts. Langsam sank der Scheiterhaufen zu einem normalen Feuer zusammen, bis nur noch kleine Stücke glosenden Holzes auf dem Boden lagen.
Der Tag war darüber fast zur Neige gegangen. In kürzester Zeit leerte sich der Burghof. Die Leute beeilten sich, noch vor Sonnenuntergang nach Hause zu kommen.
»Das hätten wir geschafft«, verkündete Markus stolz.
»Geschafft haben wir es noch nicht«, widersprach der Professor, der neben ihm an der Mauer lehnte und beobachtete, wie die Glutnester in sich zusammensanken. »Wir müssen auch die Vampirin selbst vernichten, wenn hier jemals Ruhe herrschen soll. Und das wird eine schwierige Aufgabe werden. Ich muss zuerst ihr Sterbezimmer reinigen.«
* * *
Wenig später standen sie alle vor dem Raum im Ostflügel. Die Arbeiter hatten ganze Arbeit geleistet. Aus den Fenstern waren alle Ziegel herausgeschlagen, sodass das Licht der sinkenden Sonne ungehindert in das weite Rund des Raumes floss. Kein Stückchen war darin zurückgeblieben. Schränke und Kleider, Bettzeug und Baldachin, alles war auf dem Scheiterhaufen in
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