Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen

Flammen aufgegangen.
    Die Vermauerung der Tür war völlig entfernt worden. Selbst der grüne Damastvorhang verschwunden.
    »Lasst mich allein, während ich das Ritual zur Reinigung des Raumes vornehme«, bat der Professor. »Je mehr Ruhe ich habe, desto besser gelingt es mir.«
    Sie gehorchten. Vom Ende des Korridors hörten sie den halblauten Singsang, mit dem Jonathan Pike den Segen der Heiligen Walburga auf diesen Raum erflehte. Noch während sie lauschten, wehte plötzlich ein kräftiger Windstoß den Flur entlang und trug den starken Geruch nach Laub und feuchter Erde herein.
    Nach einer Weile hörte das Singen auf, und bald kam der Professor den Flur entlang. »Kommt alle und fühlt es«, gebot er.
    Sie folgten ihm. Auf den Boden war mit Kreide inmitten eines Pentagramms ein geheimnisvolles, verschnörkeltes Zeichen gemalt.
    An den fünf Spitzen standen brennende Kerzen, deren Flammen weiß im Sonnenlicht leuchteten. Aus einer Schale in der Mitte stieg der zart bittere Duft von edlem Räucherwerk auf.
    Julia spürte es augenblicklich: Der Raum war leer. War nichts weiter als eine bedeutungslose Hülle aus Holz und Stein.
    * * *
    Dennoch war die Angst nicht von Schloss Heidebrock gewichen. Julia fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, dass eine weitere Nacht in der Burg vor ihr lag.
    »Ich habe Angst«, gestand sie mit beklommener Stimme. »So viel Schreckliches und Geheimnisvolles ist heute geschehen.«
    Der Professor beruhigte sie. »Heute Nacht wird nichts mehr passieren, das verspreche ich Ihnen. Ich habe Ihr Zimmer ein wenig ausgestattet. Sie werden es gleich sehen.«
    Julia öffnete die Tür und sah, was er gemeint hatte. Auf jedem Fenstersims lag ein großer Zweig grünen Holzes von einem Haselstrauch, an dem noch die Blätter hingen, zwei weitere Zweige steckten hinter dem Betthaupt. Das Grün verbreitete einen angenehmen Geruch. Julia hatte gelesen, dass Vampire Haselholz hassten, und spürte das aberwitzige Gefühl von Sicherheit in sich aufsteigen.
    Dennoch schien der Professor nicht zufrieden zu sein. Er blieb mit dem Leuchter in der Hand mitten im Zimmer stehen und bewegte sich von einer Seite zur anderen, als wittere er etwas in der Luft. »Irgendetwas hier stimmt nicht«, murmelte er. »Ich fühle es. In diesem Raum ist etwas Böses. Haben Sie vielleicht etwas aus dem Zimmer der Gräfin mitgebracht? Jan?«
    Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe garantiert nichts mitgenommen.«
    Der Professor blickte Julia streng an. »Und Sie?«
    »N-nein«, antwortete Julia rasch, denn im selben Augenblick war ihr die Lederrolle eingefallen, die sie aus Samanthas Schlafgemach mitgenommen hatte. Es überraschte sie selbst, dass sie so ungerührt log. Eigentlich hatte sie dem Professor das wunderliche Fundstück aushändigen wollen. Aber nun war sie plötzlich wie in einen Bann geschlagen.
    Jonathan Pike ließ sich jedoch nicht täuschen. Er hob die Lampe und leuchtete ihr ins Gesicht. »Sie lügen! Was haben Sie mitgebracht?«
    Als Julia nicht sofort antwortete, trat er einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. »Sie haben etwas aus dem Schlafgemach der Gräfin mitgenommen, nicht wahr? Geben Sie es mir!«
    Julia presste die Lippen zusammen und wich zurück. Jan sah sie verwundert an. »Was ist mit dir, Schatz?«
    Jonathan Pike streckte fordernd die Hand aus. »Geben Sie es mir!«, befahl er. Und als sie nicht gleich gehorchte, donnerte er: »Bei Sankt Walburga! Julia, geben Sie mir dieses Ding, was es auch ist, sonst werden Sie meine Macht zu spüren bekommen!«
    Julia erbleichte, als sie so heftig angefahren wurde. Sie steckte zögernd die Hand in die Tasche und zog die Lederrolle hervor. Mit einer widerstrebenden Bewegung reichte sie sie dem Professor. »Ich hatte vergessen, dass ich es eingesteckt hatte«, murmelte sie.
    Jonathan Pike achtete nicht auf ihre Entschuldigung, sondern legte die Lederrolle auf den Tisch und betrachtete sie im Kerzenschein von allen Seiten. Dann nickte er. »Es ist, wie ich dachte. In diesem Ding steckt ein Zauber. Lassen Sie uns sehen, ob wir herausfinden, welcher.« Wieder beugte er sich über das Objekt und starrte es an. Dann rezitierte er mit leiser Stimme eine Formel. Im nächsten Augenblick fuhr er zurück, als hätte er einen Blick in die Hölle getan. Er riss die Augen so weit auf, dass sich das Weiße zeigte, torkelte mit einem erstickten Schrei rückwärts und wäre gestürzt, hätte Jan ihn nicht aufgefangen.
    Gleichzeitig veränderte sich die Luft im